Einleitung

Was wäre wenn... eine erwachsene Clarice Starling bereits zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt als im Schweigen der Lämmer die Gelegenheit zu einem Zusammentreffen mit Hannibal Lecter bekommt?

Der Tod in Baltimore ist eine sogenannte Alternativgeschichte, deren Handlungsbogen sich letzten Endes von den Morden des "Chesapeake-Rippers" bis nach Hannibal erstrecken wird, mit allen dabei beteiligten Personen. Aufgrund der Vielfalt an Erzählmöglichkeiten, die sich während des Schreibens eröffnet haben, wurden für diese Geschichte drei alternative Enden gewählt, die in sich geschlossen und völlig unabhängig voneinander sind. Zu jedem dieser Endszenarios ist ein entsprechendes Sequel in Vorbereitung.

Lilith, Dezember 2003

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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)

Kapitel 1: Präliminarien

Auszug aus dem Baltimore PD Autopsiebericht (0001031), durchgeführt am 12.2.1975 um 21:35 Uhr. Obduktion durchgeführt von Dr. Catherine Hirsham (NP2971C):

...vermutlich Tod durch Strangulationsasphyxie: gewaltsame Ausrenkung des Rückgrats im Bereich der oberen Halswirbel und dadurch verursachte Verhinderung des Blutrückflusses aus dem Kopf. Vorhandensein von flohpunktförmigen Unterblutungen in beiden Augenbindehäuten; Augen und Zunge hervorgequollen, Gesichtszustand: cyanotisch. Zungenbein an der Zungenwurzel gebrochen. Ausgedehnte Quetschungen am Hals im Bereich der Einschnürungen. Typische Strangmarke, oberflächliche Abschürfungen und Hauteintrocknungen an der Stirn und am Nasenrücken, weiters Quetschungen an Ober- und Unterarmen, sowie im Oberschenkelbreich. Im Bereich des mittleren Oberbauches Eröffnung der Bauchdecke entlang dem unteren Leberrand vom rechten 9. Rippenbogen schräg aufsteigend bis zum 7. Rippenknorpel; der Brustkorb wurde mit einem scharfen Gegenstand aufgebrochen. Die dazu erforderlichen Schnitte sind präzise und anatomisch korrekt gesetzt...

*****

Bericht des National Tattler vom 13.2.1975:

FÜNFTES OPFER DES CHESAPEAKE-RIPPER GEFUNDEN! BEFRAGTE DER MEINUNGSFORSCHER DEN TOD PERSÖNLICH?

Wie uns aus gutunterrichteten Kreisen mitgeteilt wurde, handelt es sich bei dem neuesten Opfer des von der ortsansässigen Bevölkerung als "Chesapeake-Ripper" bezeichneten Serienmörders um den 45jährigen Meinungsforscher Arthur Mitman. Die grausigen Details aus dem uns vorliegenden Obduktionsbericht wollen wir an dieser Stelle den Nerven unserer Leser ersparen. Nur soviel: Wieder wurde das Opfer erwürgt und wieder wurde ein Körperorgan fachgerecht entnommen. Diesmal handelt es sich um die Leber des Mannes, die, ebenso wie die fehlenden Organe der anderen Opfern, bisher noch nicht aufgefunden werden konnte. Aus welchem Grund der Chesapeake-Ripper diese "Trophäen" entfernt hat und wo er sie aufbewahrt, ist den lokalen Behörden und den ermittelnden Beamten des FBI immer noch ein absolutes Rätsel. Der Score des Rippers ist mit diesem jüngsten Mord bei fünf bekannten (!) Opfern angekommen. Damit beginnt dieses Monster also damit, sich in die Reihe der ganz Grossen seiner "Zunft" einzureihen. Und aus Aussagen des Vorsitzenden der ermittelnden Sonderkommission des FBI kann man schließen, das noch lange kein Ende des Mordens in Sicht ist…

*****

Clarice Starling, Studentin der Psychologie und Kriminologie, seufzte und trank den letzten Schluck ihres bereits erkalteten Kaffees, ehe sie die Tasse auf den kleinen Tisch in der Studentencafeteria der UVA zurückstellte. Ihre viel zu kurze Vormittagspause war vorüber, gleichgültig wie schön und wohltuend die Wintersonne durch die großen Glasfenster des Studententreffs ihr auch zulächeln mochte. Sie musste sich ohnehin schon sehr beeilen, um zu dem Kurs, der gleich beginnen würde, nicht zu spät zu kommen.

Aber obwohl sie am heutigen Tag noch nicht einmal die Zeit gefunden hatte um zu frühstücken, hätte sie um nichts in der Welt dieses Seminar versäumen wollen. Natürlich war das Thema des Seminars "Kriminalprognose und Strafrecht" nicht ganz so spektakulär wie sie es sich gewünscht hätte, aber allein die Tatsache, dass es von niemand Geringerem gehalten wurde, als von dem Gastdozenten und FBI- Special Agent Jack Crawford, ließ diesen Kurs zu einer der begehrtesten Unterrichtsveranstaltungen des Semesters werden.

Aufgrund des großen Interesses, hatte sich die Leitung des Instituts für Kriminalwissenschaften gezwungen gesehen, ein sehr strenges Auswahlverfahren unter den Studenten durchzuführen. Das Verfahren war hart gewesen, aber nicht so hart wie Clarice Starling, die enormen Einsatz zeigen konnte, wenn ihr Ehrgeiz erst einmal geweckt worden war.

Dieser Ehrgeiz wurde aber nicht nur von dem kriminologischen Seminar an sich, sondern auch sehr stark von der Persönlichkeit des Vortragenden beeinflusst. Allerdings hatte Clarice in jugendlicher Unbekümmertheit für sich bereits entschieden, dass Jack Crawford für ihren Geschmack fast ein wenig zu bieder aussah. Sportlich und gepflegt, aber bieder.

Nichtsdestoweniger war er der Leiter der berühmtberüchtigten "Abteilung für Verhaltensforschung" des FBI und - wie hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde - auch einer der hoffnungsvollsten Anwärter auf das Amt des FBI-Direktors. Und Clarice wusste eins ganz genau: Sie wollte zum FBI.

Wie lange dieser Wunsch schon in ihr geschlummert hatte wusste sie nicht, ebenso wie sie nicht sagen konnte, wann sie ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte. Aber die Person Jack Crawfords und die Qualität seiner Seminare hatten maßgeblich zu dieser Entscheidung beigetragen, zumindest am Anfang.

Hätte Clarice Starling von außen in ihr Leben blicken können, dann würde sie erkannt haben, dass dieser Wunsch bereits eine obsessive Qualität erreicht hatte und eine derart zentrale Rolle in ihrem Denken einnahm, dass sie ihr gesamtes Leben auf das Erreichen dieses Zieles ausgerichtet hatte.

Ihr ursprünglicher Wunsch war lediglich ein Abschluss in Psychologie gewesen. Mit der dadurch erworbenen Therapeutenlizenz hätte sie sich dann irgendwo niedergelassen, aber der Besuch eines einzigen Seminars unter der Leitung von Crawford hatte ihr völlig neue Perspektiven eröffnet. Mittlerweile hatte sie einen ausgezeichneten Abschluss in Psychologie gemacht und wenn alles glatt lief, dann würde sie binnen Jahresfrist auch das Fach Kriminologie fertig gestellt haben. Trotzdem war der Weg nach Quantico noch weit und mit Hindernissen gepflastert, wie sie sehr genau wusste.

Seit geraumer Zeit gab es das Gerücht, dass die Academy wegen der großen Flut an Bewerbungen in den nächsten Jahren vermutlich einen Einstellungsstopp verfügen würde. Um einer drohenden Abweisung zu entgehen, hatte sie aus rein strategischen Gründen zusätzlich noch das Fach forensische Chemie belegt.

Möglicherweise schaffte sie es mit diesem Schachzug in den Laboren Fuß zu fassen und so die Zeitdauer bis zu einer eventuellen Aufnahme zu überbrücken. Ihr war klar, dass sie ihre Abschlüsse an der UVA bald machen musste und zwar mit einem ausgezeichneten Ergebnis, bevor sie überhaupt daran denken konnte, sich bei der Academy zu bewerben. Aber sie glaubte sicher zu wissen, dass ihr Interesse und damit logischerweise auch ihre berufliche Zukunft in der forensischen Verhaltensforschung lag. Und deren Leiter war nun einmal Jack Crawford.

Fast im Laufschritt überquerte sie den Campus, sorgfältig darauf bedacht, auf den schnee- und eisbedeckten Wegen nicht auszurutschen und huschte eben noch durch die Türe, ehe der Meister den Raum betrat. Zu ihrem Entzücken fand sich für sie auch noch ein Plätzchen ganz vorne, sodass sie direkt in Crawfords Blickfeld sitzen konnte.

Es kann nicht schaden, wenn er beizeiten auf mich aufmerksam wird, dachte Clarice bei sich, während sie ihre Schreibutensilien auspackte und aus den Augenwinkeln Crawfords eigene Vorbereitungen mitverfolgte. Gott sei Dank bin ich nicht zu spät gekommen. Man sollte auf einen eventuellen zukünftigen Vorgesetzten nicht schon im Vorfeld einen schlechten Eindruck machen...

*****

Das Seminar war der Thematik entsprechend, nicht besonders fesselnd, aber Crawford war einer jener Vortragenden, die es verstanden, den an sich sehr trockenen Paragraphen, mit anschaulichen Beispielen aus dem Alltag kriminalistischer Ermittlungen, Leben einzuhauchen.

Äußerlich betrachtet verfolgte Clarice Jack Crawfords Ausführungen begeistert und schrieb eifrig mit. Sie war in ihrem Studium schon zu weit fortgeschritten, um noch mit der allseits bekannten Tatsache zu hadern, dass mehr als die Hälfte aller während eines Studiums vorgetragenen Inhalte keinen oder nur sehr wenig Bezug zu ihrer späteren beruflichen Tätigkeit haben würden.

Trotzdem richteten sich unter der Oberfläche emsiger Konzentriertheit Clarices Gedanken im wesentlichen auf jene zwei Dinge, mit denen jeder Student im Rahmen einer unspektakulären Unterrichtseinheit zu kämpfen hat: Die Perfektionierung der Technik ein Gähnen zu unterdrücken und im Stillen über die mangelnde Kooperationsbereitschaft ihres Magens zu fluchen.

Die einzigen sichtbaren Anzeichen von Desinteresse waren ihre Blicke, die heute öfter als gewöhnlich zu dem Ziffernblatt der großen runden Uhr an der rechten Seite des Hörsaales wanderten, und deren Zeiger sich, wie es ihr erschien, nur unendlich langsam dem Ende der Unterrichtseinheit näherten.

Als Jack Crawford endlich seine Schlussworte gesprochen hatte, begann sie damit, ihre Sachen wieder einzusammeln. Unversehens trat er aber noch einmal nach vorne und ließ seinen Blick langsam über das gesamte versammelte Auditorium schweifen. Als er erneut die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich konzentriert hatte, sagte er:

"Für diejenigen von Ihnen, die an einer weiteren Laufbahn im Polizeidienst oder an der Academy interessiert sind, ist ein ausgezeichneter Abschluss dieses Kurses eine absolute Notwendigkeit, um die Berechtigung zu weiteren Lehrveranstaltungen dieser Art zu erhalten. Um daher weder Ihre noch meine Zeit zu verschwenden, werden wir ab sofort damit beginnen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aus diesem Grund schreiben wir morgen gleich zu Beginn des Seminars eine kleine Zwischenprüfung."

Er machte eine wirkungsvolle Pause, bis er sich sicher war, dass seine Worte in das Bewusstsein seiner Studenten gesickert waren. Er wirkte ernst, aber Clarice glaubte in seinen Augen einen Anflug an Heiterkeit erkennen zu können.

"Damit Ihnen heute Nachmittag aber nicht langweilig wird und Sie darüber hinaus meinen Stoff in Teilbereichen vertiefen können, werden alle diejenigen von Ihnen, die Wert darauf legen zur Abschlussprüfung in meinem Seminar überhaupt antreten zu dürfen, heute und an den nächsten zwei Tagen eine begleitende Lehrveranstaltung besuchen. Selbstverständlich gilt für jeden dieser drei Termine ausnahmslos absolute Anwesenheitspflicht."

Ein Stöhnen durchlief die Reihen der anwesenden Studenten. Eine unangekündigte Zusatzveranstaltung mit Anwesenheitspflicht. Und dann auch noch eine Zwischenprüfung. Jack Crawford ließ sich nicht im mindesten von den gemurmelten Unmutsäußerungen beeindrucken und fuhr – diesmal allerdings mit dem Anflug eines Lächelns um die Lippen – fort:

"Ich weiß, das kommt etwas überraschend für Sie, aber ich versichere Ihnen, ich wurde selbst erst heute morgen informiert. Der Leiter dieser begleitenden Veranstaltung hat aus beruflichen Gründen einige Tage lang an der UVA zu tun und sich auf eine entsprechende Anfrage der Institutleitung freundlicherweise dazu bereit erklärt, ergänzend zu meinem Seminar eine Kriminalitätserklärung anhand von Täterbiographien durchzugehen."

Jovial lächelnd packte er seine paar Unterlagen zusammen, steckte sie sich unter den Arm und schloss seinen Vortrag mit den folgenden Worten:

"Behalten Sie das Ziel im Auge, meine Damen und Herren, und freuen Sie sich, denn dieser Mann ist eine Kapazität auf seinem Gebiet und hat bereits eine ganze Menge psychiatrischer Gutachten für Gerichte an der gesamten Ostküste erstellt. Nehmen Sie die Gelegenheit wahr, mit einem so erstklassigen Fachmann zu arbeiten, und holen Sie aus dieser Situation für sich so viel Wissen wie möglich heraus. Wir sehen uns dann morgen früh pünktlich um neun Uhr. Ich wünsche Ihnen einen unterhaltsamen und lehrreichen Nachmittag."

Im Anschluss an diese Worte drehte er sich um und verließ ohne weiteren Kommentar den Raum. Nach einer kurzen Schweigeminute breitete sich von verschiedenen Ecken des Hörsaals ein empörtes Raunen aus. Clarice ließ entnervt den Kopf auf ihre Mitschrift sinken. Demnächst musste sie eine der wichtigsten Abschlussklausuren für ihren derzeitigen Studienabschnitt schreiben. Sie seufzte. Na toll, das würde nicht einfach werden...

*****

Als Clarice den Hörsaal verließ, sah sie Jack Crawford in der Lobby des Institutsgebäudes mit einem Mann zusammenstehen, der ihr den Rücken zugewandt hatte. Ihr Weg führte sie zwangsläufig nahe an den beiden vorbei und sie konnte einen neugierigen Seitenblick nicht unterdrücken. Als sie etwa auf gleicher Höhe war, lachten die beiden gerade und der unbekannte Mann drehte sich dabei so, dass sie ihn nun auch von vorne betrachten konnte. Er hatte sein Sakko aufgeknöpft und eine Hand steckte locker in einer seiner Hosentaschen. Mit der anderen hielt er mit jener Lässigkeit eine Brille, die allfälligen Beobachtern sofort und unterbewusst einen Eindruck von Autorität vermittelte.

Sehr gepflegt, dachte sie bei sich, und etwa im gleichen Alter wie Jack Crawford. Sie hatte nicht gerade viel Zeit, um das Gesicht des Mannes zu mustern, aber sein äußeres Erscheinungsbild war nicht unattraktiv. Was ihr aber sofort ins Auge stach, war die teure maßgeschneiderte Kleidung, die er trug. Weisenhauserprobt und an modische Entbehrungen gewöhnt, hatte sie einen untrüglichen Blick für all die Sachen entwickelt, die sie sich nicht leisten konnte. NOCH nicht leisten kann, verbesserte sie sich in Gedanken.

Kurz bevor sich der Mann wieder Jack Crawford zuwandte, konnte sie noch einen schnellen Blick auf seine ID-Card werfen und den Namen darauf lesen. Er lautete... Hannibal Lecter, M.D.

*****

"Jack! Es ist ja nun schon beinahe eine Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind. Haben Sie es endlich geschafft, aus Ihrem düsteren Kellerverlies in die lichten Höhen der Wissenschaft zurückzufinden? Aber so, wie ich Sie kenne, ist dieser Zustand ohnehin nur von kurzer Dauer, ehe Sie sich von Ihren Vorgesetzten wieder in die Abgründe der menschlichen Seele zurückwerfen lassen", erklang eine wohlwollend gefärbte Stimme in Jack Crawfords Rücken, als dieser gerade den Hörsaal seiner Klasse verlassen hatte.

Noch während er sich umdrehte, setzte Crawford sein bestes und geschäftsmäßigstes Lächeln auf. Der Mann, der ihn von hinten angesprochen hatte, gehörte beileibe nicht zu seinen bevorzugten Gesprächspartnern, aber er konnte es sich in seinem Metier nicht leisten, auf persönliche Aversionen Rücksicht zu nehmen. Besonders nicht, wenn es sich bei seinem Gegenüber um eine Persönlichkeit von solch tadellosem Ruf und so unbestreitbar wertvoller Beobachtungsgabe handelte, wie dem vielfach ausgezeichneten und gesellschaftlich etablierten Psychiater Dr. Hannibal Lecter.

Obwohl das Genie dieses Mannes bei der Einschätzung und psychiatrischen Behandlung geistesgestörter Gewalttäter unbestreitbar war, beschlich Jack Crawford in seiner Gegenwart immer ein eigenartiges und unangenehmes Gefühl in der Bauchgegend.

Hätte man ihn konkret danach gefragt, hätte Crawford, dessen Denkweise stark im analytischen Bereich verankert war, dieses Gefühl nicht benennen können. Etwas prosaischere und esoterischer veranlagte Gemüter hätten es vermutlich als den kalten Hauch einer bösen Vorahnung bezeichnet. Was auch immer es war, es streifte ihn jedes Mal, wenn er mit dem Doktor zusammentraf.

Jack Crawford mochte Dr.Lecter nicht und er war sich sicher, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Beide Männer waren aber zu professionell, um diese gegenseitige Abneigung in irgendeiner Weise zu artikulieren und dadurch das erfolgreiche Arbeitsverhältnis zu trüben, das sie von Zeit zu Zeit miteinander verband.

"Hannibal, was für eine angenehme Überraschung. Nun, ich dachte, die Abgründe der menschlichen Seele wären eher Ihr Metier, aber Sie haben natürlich recht. Es ist eine sehr angenehme Abwechslung, einmal für ein paar Wochen nichts mit dem alltäglichen Wahnsinn in der Verhaltensforschung zu tun zu haben. Und ganz besonders jetzt. Sie können mir glauben, im Moment ist in meinem düsteren Kellerverlies im wahrsten Sinn des Wortes die Hölle los."

Dr. Lecter runzelte freundlich seine Stirn und fragte in verständnisvollem Tonfall:

"Ich vermute, Sie spielen auf den Chesapeake-Ripper an?"

Jack Crawfords Lächeln bekam bei der Erwähnung dieses Namens eine säuerliche Komponente, er schaffte es aber, jegliche Gefühlsanwandlung aus seiner Stimme herauszuhalten.

"Natürlich geht es um den Chesapeake-Ripper. Wen sonst? Seit dem fünften Opfer sitzt uns die Presse im Nacken, und wir haben immer noch keinerlei Anhaltspunkte, nicht die geringsten. Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Hannibal, die ganze Sache entwickelt sich zu einem wahren Alptraum. Kein jemals von uns entwickeltes Schema passt auf diesen Serienmörder. Man könnte sogar sagen, dass wir uns de facto auf völligem Neuland bewegen. Allerdings haben wir noch ein heißes Eisen im Feuer..."

"Ein heißes Eisen? Wie interessant!"

"Ja. Ich spreche von Will Graham. Es ist seine besondere Gabe, in die ich nun meine größten Hoffnungen setze."

Dr. Lecter verlagerte sein Gewicht auf einen anderen Fuß und führte mit einer flüssigen, eleganten Geste die Hand mit der Brille zum Gesicht. Wie es schien nachdenklich, nahm er das Ende eines Brillenbügels in den Mund und blickte Jack Crawford mit funkelnden, eisblauen Augen und dem für ihn so typischen leicht spöttischen Lächeln direkt an.

Wie eine Katze, die mit einer Maus in ihren Fängen spielt, dachte Crawford unwillkürlich bei sich, wischte diesen Gedanken aber sofort wieder beiseite und betrachtete ihn als Ausdruck seiner persönlichen Abneigung gegen diesen Mann.

"Ja. Ich erinnere mich. Ein interessanter Junge, in der Tat. Wir haben im Fall Garret Jakob Hobbs miteinander gearbeitet, Jack. Das können Sie doch nicht vergessen haben? Es ist in der Tat eine außergewöhnliche Gabe, sich buchstäblich in die Psyche eines Mörders hineinversetzen zu können und auf diese Weise dessen Motivationen und Gefühle nachzuvollziehen. Außergewöhnlich für uns, eine seelische Hölle für ihn, wie ich mir vorstellen kann. Aber nichtsdestotrotz sehr hilfreich für eine Institution wie das FBI."

Der ironische Unterton dieser Worte verriet Jack Crawford, wie sehr Hannibal Lecter den Tanz um den heißen Brei genoss. Es war eine der wenigen Eigenschaften, die Jack Crawford dem Doktor als wirkliche Schwäche ankreiden konnte. Hannibal Lecter half nie einfach nur aus Freundlichkeit oder gar Mitleid. Er wollte um seine Hilfe gebeten werden. Umso ungewöhnlicher fand er es, dass sein Gegenüber heute auf diese Präliminarien offenbar verzichtete und gleich zum Punkt kam.

"Will Graham also. Nun gut, Jack. Vielleicht kann ich mit meinen bescheidenen Fähigkeiten ein Scherflein dazu beitragen, um dem FBI in Sachen Chesapeake-Ripper zu einem Erfolg zu verhelfen. Schicken Sie mir Ihren hochbegabten Sonderermittler doch einmal bei Gelegenheit vorbei. Was meinen Sie?"

Nach diesen Worten lächelte auch Jack Crawford sein Gegenüber an. Er war erleichtert, dass die Begrüßungsphase, mit dem nur an der Oberfläche freundlichen Schlagabtausch, endlich hinter ihnen lag und beide wieder auf bekanntem Terrain angekommen waren. Das weitere Gespräch bekam nun einen professionellen, beinahe geschäftsmäßigen Unterton.

"Was ich meine, Hannibal?" sagte Crawford sarkastisch. "Den Ermittlungen in diesem Fall wäre sicher sehr geholfen, wenn Sie Ihre Talente auch noch in die Waagschale werfen würden. Und wenn Sie sich offiziell bereit erklären würden mit uns zusammenzuarbeiten, würde uns Ihr renommierter Name auch gegenüber der Presse den Rücken stärken."

"Ach, Jack, Sie wissen doch, ich bin für jeden Fetzen Information dankbar, den mir Ihre Behörde zukommen lässt. Ich profitiere schließlich auch davon, denn all diese Dinge erweitern meinen Horizont und verbessern damit letztendlich meine eigene Arbeit. Ich meine, schließlich muss ich mich ja auch von irgendetwas ernähren, nicht wahr?"

Bei diesen Worten zwinkerte Dr. Lecter seinem Gegenüber verschwörerisch zu. Jack Crawford ignorierte die vertrauliche Geste und antwortete:

"Nun, ich denke, dann wäre es das Beste, wenn ich Ihnen Will Graham so bald als möglich vorbeischicke, damit Sie beide sich austauschen können. Käme es Ihnen ungelegen, wenn ich ihn noch heute anfordern würde, damit er hierher kommt? Ich denke, wir haben keine Zeit zu verlieren, der letzte Mord des Chesapeake-Ripper liegt schon einige Wochen zurück und es gibt bereits jetzt eine signifikante Verkürzung der latenten Phase zwischen seinen Morden. Wenn wir die Situation richtig einschätzen, dann sucht er bereits jetzt nach seinem nächsten Opfer."

"Nun, Erfolgsgarantie kann ich Ihnen natürlich keine geben, aber schicken Sie mir Ihren Sonderermittler ruhig einmal vorbei. Sehr interessant übrigens, dass Sie der Tatsache, dass sich die Zeitdauer zwischen den Morden des Rippers verkürzt, so viel Bedeutung beimessen. Dabei haben Sie gerade zuvor selber zugegeben, dass dieser spezielle Serienmörder offensichtlich in kein bekanntes System eingeordnet werden kann."

Nach diesen Worten seufzte Hannibal Lecter übertrieben auf, ehe er fortfuhr: "Wie Sie wissen, bin ich nicht gerade ein Befürworter der Richtlinien, die das FBI zur Klassifizierung von Serienmördern anwendet. Und Jack, ich denke es ist nur fair, wenn ich Sie gleich hier an dieser Stelle warne, dass ich mit meiner diesbezüglichen Meinung auch vor den Studenten Ihres Kurses nicht hinter dem Berg halten werde."

Mit hörbar sarkastischem Unterton, antwortete Jack Crawford: "Machen Sie nur, Dr. Lecter. Reißen Sie unsere Strategen ruhig aus ihrem Dornröschenschlaf und brandmarken Sie das System. Solange es mir nur dazu verhilft, meine Mörder zu fangen, ist mir alles recht."

Diese Antwort löste bei Dr. Lecter offene Heiterkeit aus.

"Gut, Jack, Sie haben hiermit mein Wort als Ehrenmann, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um Ihr Klassifizierungssystem zu widerlegen."

Beide Männer lachten.

*****

Nachdem sich die Wege der beiden wieder getrennt hatten, kehrte Hannibal Lecter in das provisorische Büro zurück, das ihm die Institutsleitung für die Dauer seines Aufenthaltes zur Verfügung gestellt hatte. Genauso wie die attraktive, junge Sekretärin, die ihm sofort nach seinem Auftauchen unaufgefordert eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser servierte.

Er quittierte diese Aufmerksamkeit mit einem charmanten Lächeln und einigen netten, nichts sagenden Worten, ehe er sich in seinem Sessel zurücklehnte und die Augen schloss, um das zuvor geführte Gespräch noch einmal für sich zu reflektieren.

Interessante Neuigkeiten, in der Tat. Natürlich nicht die Tatsache, dass weder das FBI noch die ermittelnden Beamten vor Ort keinen blassen Schimmer davon hatten, wie sie den Chesapeake-Ripper einzustufen hatten. Hannibal Lecter wusste genau, dass er makellos saubere Arbeit geleistet hatte und dass er in keinster Weise in das Suchschema des FBI hineinpasste.

Nein, er war vielmehr fasziniert von der Tatsache, dass Jack Crawford nach dem offensichtlichen Versagen der konventionellen Fahndungsmethoden nunmehr dazu überging, seine gesamte Ermittlungsarbeit auf die intuitiven Fähigkeiten eines einzigen Mannes aufzubauen.

Hannibal Lecter kannte den außergewöhnlich begabten jungen Mann gut genug, um zu wissen, dass er ein durchaus reales Gefahrenpotential für ihn darstellen konnte. Er wusste aber auch um die Belastung, der Will Grahams Geist durch diese Begabung ausgesetzt war. Zuwenig mentale Disziplin und zu viele Möglichkeiten, um in die Schatten des Wahnsinns abzugleiten. Möglicherweise konnte man eine derartige Entwicklung ja forcieren...

Und Jack Crawford, in dessen Tonfall und Körpersprache sich die Sympathie, die er für Will Graham empfand, so offensichtlich ausdrückte?

Hannibal Lecter zweifelte keine Sekunde lang daran, dass Crawford bedenkenlos die geistige Gesundheit seines Proteges aufs Spiel setzen würde, wenn er damit sein Ziel erreichen konnte.

Solange es mir nur dazu verhilft, meine Mörder zu fangen, ist mir alles recht.

Hannibal Lecter lachte leise in sich hinein.

Bravo. Und der gute Jack hatte jedes Wort auch so gemeint. Vollkommen resistent gegen die Verlockungen des Geldes. Und gegen die mit solchen spektakulären Jagderfolgen üblicherweise verbundenen gesellschaftlichen Ehren und Würden, war es ihm tatsächlich vollkommen gleichgültig, auf welche Weise er seinen Mördern das Handwerk legte, solange es nur geschah.

Ein Mann, getrieben von der inneren Notwenigkeit, all den bleichen und geschundenen Körpern, die er Tag für Tag zu sehen bekam, jene Referenz zu erweisen, die er als die einzig würdige erachtete: ihren Mörder zu finden und einer wie auch immer gearteten Bestrafung zuzuführen.

Der stoische Ausdruck im Gehabe des charismatischen Leiters der Abteilung für Verhaltensforschung des FBI konnte allzu leicht dazu verführen, falsche Schlüsse über seine Effizienz zu ziehen. Hannibal Lecter bestrafte sich für seine kleine Fehleinschätzung, indem er sich selber wie einen Schuljungen eine der grundlegendsten Regeln logisch-analytischer Denkfolge rezitieren ließ:

Falsche Prämissen im Denkansatz führen zu falschen Schlussfolgerungen. Falsche Schlussfolgerungen resultieren unweigerlich in Theorieleichen.

Hannibal Lecters Einsatz bei diesem Spiel war zu hoch, als dass er sich bereits Fehler auf einer derart grundlegenden Ebene erlauben konnte. Im Kontext betrachtet, war Jack Crawford entschieden zu flexibel, wenn es darum ging, seine Ermittlungen voranzutreiben. Er würde ihn daher von nun an nicht mehr aus den Augen lassen.

Seine Besessenheit machte ihn zu einem ausgezeichneten Spürhund. Das und die Tatsache, dass er - immer das Ziel vor Augen - ganz offensichtlich jede persönliche Verpflichtung außer acht lassen konnte. Und genau das machte ihn wiederum zu einem gefährlichen und nicht zu unterschätzenden Gegner für den Chesapeake-Ripper.

Hannibal Lecter öffnete seine Augen und nippte an seinem Kaffee. Die ganze Sache versprach aufregend zu werden.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 2: Die Seele des Mörders

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Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
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