Flash abspielen
Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)

Kapitel 2: Die Seele des Mörders

Nach einem hastigen Mittagessen in der Cafeteria schlenderte Clarice in Gedanken versunken zurück zum Hörsaal, in dem die nachmittägliche Lehrveranstaltung stattfinden sollte. Ihre Begeisterung hielt sich nach wie vor in Grenzen, aber das hatte mehr mit den vor ihr liegenden Prüfungen zu tun, als mit dem Kurs an sich, denn zumindest das Thema traf ins Zentrum ihres Interesses.

Ihre Studienkollegen sahen das offensichtlich genauso, denn trotz ihrer Empörung über den aufgezwungenen Kurs, war der Hörsaal genauso wie am Vormittag praktisch bis auf den letzten Platz besetzt. Als sich die Türe öffnete, verstummten die meisten Gespräche und alle Blicke richteten sich auf die "Kapazität", die Jack Crawford bereits mit so vielen Vorschußlorbeeren bedacht hatte.

Der Mann, der nun gemessenen Schrittes, aber zielsicher den Saal betrat, war derselbe, den Clarice nur wenige Stunden zuvor mit Jack Crawford am Gang stehen gesehen hatte. Diesmal hatte sie allerdings mehr Zeit, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Der erste Eindruck vom Vormittag schien sich erneut zu bestätigen. Sehr elegant, sehr geschmackvoll und sehr autoritär. Beeindruckend schon allein in der Art und Weise, wie er ohne seinen Blick auf die anwesenden Studenten zu richten, an seinen Schreibtisch trat und seinen Kugelschreiber aus der Brusttasche nahm.

Erst als er seine vorbereitenden Handgriffe erledigt hatte, trat er nach vorne und lehnte sich mit seiner Hüfte lässig an die Schreibtischkante. Er hob seinen Blick und ließ ihn abschätzend über die gesamte Klasse wandern. Dabei achtete er darauf, dass er jeden einzelnen Studenten genau in Augenschein nahm. Als die Reihe an Clarice kam, musste sie das dringende Bedürfnis unterdrücken, vor Unbehagen auf ihrem Stuhl hin und her zu wetzen. Sein Blick hatte etwas ungemein Durchdringendes, Analysierendes an sich, und obwohl er Clarice nicht mehr Aufmerksamkeit widmete als jedem einzelnen ihrer Kolleginnen und Kollegen, hinterließ diese Begutachtung bei ihr ein eigenartig verstörendes Gefühl.

Und verfehlte seine Wirkung nicht. Nicht bei ihr und auch nicht bei den anderen Studenten im Raum, die mittlerweile stumm und vollkommen gebannt auf den Mann blickten, der da vor ihnen stand. Clarice bewunderte diese Technik, mit der er, ohne besondere Geste und ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren, die vollkommene und ungeteilte Aufmerksamkeit des Auditoriums gewonnen hatte. Und er hatte unmissverständlich klargemacht, wer in diesem Raum die Fäden in der Hand hielt.

Wie um diesen ersten Eindruck geballter Autorität etwas abmildern zu wollen, erschien plötzlich ein leichtes Lächeln um seinen Mund. Es machte seine Züge weicher und verlieh seinen durchaus attraktiven Zügen eine sehr charmante Note. Aber Clarice war – neben vielen anderen Dingen – auch eine ausgesprochen gute Beobachterin. Das professionelle Lächeln erreichte seine Augen nicht. Mit anderen Worten – mit diesem Mann war nicht gut Kirschen essen.

Mit einem unbestimmten Druck in der Magengegend verfolgte sie seine Handbewegungen und beobachtete, wie er die Fernbedienung des Projektors zur Hand nahm und das erste Bild auf der weißen Wand über der grünen Schreibtafel erschien.

Auf den ersten Blick erkannte sie nur die farbenfrohe Darstellung eines in mehrere Sektoren unterteilten Rades mit darin enthaltenen menschlichen Figuren. Das Bild schien sehr alt zu sein. Fasziniert von diesem unerwarteten und recht unüblichen Einstieg in einen Vortrag über Täterprofile, lauschte sie gebannt der Vortragsstimme, mit der er zu seinen ersten Worten ansetzte.

*****

"Zu Beginn der heutigen Unterrichtseinheit möchte ich Ihnen eine Betrachtung der sieben Todsünden der Menschheit offerieren, meine Damen und Herren, in der berühmten Darstellung von Hieronymus Bosch. Das Rad der Sünde, sozusagen. Ein wunderschönes Bild, nicht wahr? Festgehalten und gemalt in einem Zeitalter, welches unsere - ach so zivilisierte Gesellschaft - als das Finstere bezeichnet."

Er machte eine Pause, um das Bild wirken zu lassen, und fuhr dann fort:

"Wie verblüffend einfach uns doch diese mittelalterliche Darstellung anmutet, nicht wahr? Und doch ist sie nur ein ferner Spiegel all dessen, was uns auch heute noch in den Gesichtern und den Taten all derer begegnet, die uns am nächsten sind, oder derjenigen, die Tag für Tag unsere Wege kreuzen.

Erinnern Sie sich noch an die genaue Bezeichnung dieser sieben Erzsünden aus den frühen Tagen Ihrer religiösen Erziehung?"

Er vollführte mit seinem Arm eine weitschweifige Geste und registrierte offenbar befriedigt das Nicken, mit dem viele Studenten seine Frage beantworteten.

"Dann, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wiederholen Sie langsam im Geist mit mir: Hochmut, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei und Wollust."

Er legte seinen Kopf in einer beinahe wegwerfenden Geste zur Seite, ehe er im Plauderton weitersprach:

"Sie müssen wissen, die Menschen des Mittelalters verbanden mit diesen sieben Abscheulichkeiten eine Bedrohung des armen Sünders durch Gottes Zorn und der Furcht vor dem göttlichen Strafgericht. Die heutige Gesellschaft hat ihre diesbezüglichen Bedenken zugunsten der Freiheit des Individuums fallengelassen und gesteht den Betrachtungen früherer Generationen lediglich einen nostalgischen Stellenwert zu.

Und doch, bei genauer Betrachtung haben sich die Türen der Hölle hinter diesen sieben verwerflichen Eigenschaften des Menschen in keinem Fall geschlossen. Sie fragen mich vielleicht, was ich damit meine. Nun, ich spreche von den sehr realen Manifestationen einer oder mehrerer dieser sieben Todsünden in der Hölle eines kranken menschlichen Geistes.

Lassen Sie mich daher diesen sieben Todsünden durch alle Zeiten und alle Erdteile einen Namen geben und ihnen ein Gesicht verleihen:
Petiot, Wuornos, Tschikatilo, Dahmer, Burke und Hare, Denke, de Salvo."

Er unterstrich jeden Namen mit einem entsprechenden Dia, die er in schneller Folge vor den Augen der Studenten ablaufen ließ.

"Nur sieben Namen von Hunderten, die uns aus der Geschichte der Kriminologie bekannt sind. Nur sieben Namen von Hunderten, die derzeit gerade überall auf der Welt ihrer obsessiven Neigung zu einer oder mehreren der sieben Todsünden frönen. Nur sieben Vorgänger all jener, die gerade jetzt, in diesem Moment, in den vereinigten Staaten Ausschau nach ihrem nächsten Opfer halten."

Erneut machte er eine gewichtige Pause und ließ seinen Blick über die versammelten Studenten schweifen, wie um sich zu versichern, dass absolut jeder Anwesende in diesem Raum seinen Ausführungen mit angemessener Konzentration lauschte. Erst dann fuhr er mit gemessener, freundlicher Stimme fort:

"Mord. Was für ein schillerndes und obszönes Wort. Was für ein Sammelsurium an Motiven: Psychopathologie, Emotion, Materialismus, Politik, Rassismus und Sex. Und dennoch seit jeher und durch alle Zeiten als Begleiterscheinung des Lebens schlicht und ergreifend hingenommen.

Keine Angst, meine Damen und Herren, von all diesen Mördern wird in diesem Kurs nicht die Rede sein.

Hier in diesem Kurs wollen wir eine völlig andersartige Struktur betrachten. Abstoßend, faszinierend, vielschichtig und dennoch unerhört vorhersagbar, wenn man den roten Faden gefunden hat, der sich durch dieses besondere Gebilde zieht. Ich spreche vom Eintritt in eine völlig eigene Sphäre, einen eigenen Raum: die lediglich zeitlich unterbrochene Aufeinanderfolge immer gleichartiger Tötungshandlungen... den Mord in Serie.

Und ein eigener Raum ist es in der Tat. Sie werden bei diesen Mördern vergeblich nach einer persönlichen Verbindung zu den Opfern suchen. Sie werden kein wiederkehrendes Motiv finden, keine gleichartige Tatausführung, kein äußerlich erkennbares Merkmal, kein Mord im Affekt oder Alkoholrausch. Kurzum: keine Berechenbarkeit.

Und ihre Täter?

Emotional labil, gemütsarm, verantwortungslos, egoistisch, egozentrisch mit eingeschränkter Impulskontrolle und Minderwertigkeitsgefühlen ausgestattet. Durchdrungen von latenter Tötungsbereitschaft wird Mord zum Lebensinhalt, die Wiederholung zur Notwendigkeit, zur Fixierung. Eine blutige Manifestation psychischer, sexueller, emotioneller, sozialer oder sonstiger Grundproblematiken.

Dieser Tätertyp, meine Damen und Herren, ist menschlich und kriminalistisch schlicht und ergreifend ein Alptraum. Lassen Sie mich daher an dieser Stelle eine Warnung an alle zartbesaiteten Gemüter in diesem Raum aussprechen: Ich bin nicht hier, um Sie zu trösten und Ihnen die banale Botschaft zu vermitteln, dass irgendwann einmal schon wieder alles gut werden wird. In der Sphäre, in die wir hier eintauchen werden, gibt es keinen Trost und keine Hoffnung, kein Mitleid und keine Vergebung.

Meine Aufgabe ist es einzig und allein, Ihnen die Türe zu dieser menschlichen Hölle zu öffnen, und glauben Sie mir, wenn Sie erst einmal einen Blick in den Abgrund geworfen haben, dann werden Sie die Welt mit anderen Augen sehen."

Er stand nun in der Mitte des Raumes, im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Alle Blicke hatten sich fasziniert auf ihn gerichtet.

"Ich denke, nun ist der Zeitpunkt gekommen um mich vorzustellen. Mein Name ist Dr. Hannibal Lecter, ich bin forensischer Psychiater und glauben Sie mir", er machte erneut eine bedeutungsvolle Pause, ehe er mit eisenharter Stimme nachsetzte, "...ich weiß, wovon ich spreche."

*****

Clarice Starling war eine der letzten, die den Hörsaal nach dem Ende des Vortrages verließen. Sie war vollkommen ausgelaugt, denn in ihrer gesamten Laufbahn als Studentin an der UVA hatte sie noch nie in so kurzer Zeit einen so massiven Informationsinput zu verdauen gehabt.

Dabei war sie sich nicht einmal ganz sicher, welche Komponente des Vortrages ihre Aufmerksamkeit mehr beansprucht hatte: der absolut faszinierende Inhalt oder der ungemein charismatische Vortragende, der mit seinem Stil, seiner nahezu genialen Stimmmodulation und dem strukturierten Aufbau des Vortrages die letzten zweieinhalb Stunden wie im Flug hatte vergehen lassen.

Nicht ein einziges Mal in dieser ganzen Zeit hatte sie einen Blick auf die Uhr geworfen, nicht eine einzige Notiz hatte sie in ihrer Mitschrift vermerkt. Mit atemloser Faszination hatte sie während des gesamten Vortrages an Dr. Lecters Lippen gehangen, der völlig ohne Unterlagen diese Unterrichtseinheit quasi aus dem Stegreif gehalten hatte.

Nach seinen einführenden Worten hatte er noch eine Podiumsdiskussion zugelassen, bei der jedem Anwesenden das enorme Wissen, die praktische Erfahrung und die geniale Begabung dieses doch eher kleinen Mannes klar vor Augen geführt worden waren, der es aber glänzend verstanden hatte, sich vom ersten Augenblick an mit so ungemein wirkungsvoller Autorität in Szene zu setzen.

Clarice war begeistert. Unglücklicherweise war diese Vorlesung das letzte ansprechende Ereignis auf der heutigen Tagesordnung. Sie hatte große Mühe, sich auf die vor ihr liegenden Bücher zu konzentrieren, als sie es sich im Anschluss an dieses Seminar in der Fachbibliothek für Kriminalistik gemütlich machte, um für Crawfords angekündigte Zwischenprüfung zu lernen.

Die halbe Nacht verbrachte sie damit, sich in Paragraphen und Interpretationen von Gesetzestexten einzulesen. Erst als ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen, beschloss sie, die Bibliothek wieder zu verlassen und zu ihrer Unterkunft zu marschieren, um noch einige Stunden Schlaf zu bekommen.

Sie beendete den Tag mit einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit. Dankbarkeit, weil ihr dieser Tag die letzten Zweifel über den beruflichen Weg genommen hatte, den sie einschlagen wollte: zuerst ihr Abschluss an der UVA, dann die Academy. Und irgendwann würde sie dieser Weg auch in die Verhaltensforschung führen.

Clarice Starling fühlte sich stark. Heute Nachmittag hatte sie einen ersten Blick in die abartigsten Bereiche der Seele eines Mörders werfen können. Sie war sich sicher, in diese Abgründe hinuntersteigen und unbeschadet wieder daraus hervorzukommen zu können.

Clarice Starling war jung und sie war sich nicht bewusst, dass sie mit ihrem brennenden Wunsch nach einer Karriere beim FBI gerade eben die Grenze zur Obsession überschritten hatte.

*****

Auch in Dr. Lecters Büro wurde bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Jack Crawford hatte seine Ankündigung wahrgemacht und Will Graham war noch am selben Abend nach Charlottesville gekommen, um mit einem der renommiertesten forensischen Psychiater des Landes eine ausgiebige Unterhaltung über die Erstellung eines Täterprofils zum Chesapeake-Ripper zu führen.

Ebenso wie Clarice Starling war auch Will Graham beeindruckt von dem immensen Wissen und der Erfahrung, die Dr. Lecter in eine laufende Ermittlung einzubringen hatte. Er hatte aufgrund ihrer früheren Begegnungen aber auch noch das Privileg, die freundliche und zuvorkommende Art des Doktors zu kennen.

Um den Abend nicht gleich mit all den hässlichen Dingen zu beginnen, derentwegen man eigentlich zusammengetroffen war, und um ihre Bekanntschaft wieder aufzufrischen, hatte Dr. Lecter Will Graham zu einem kleinen Dinner eingeladen. Will hatte erfreut angenommen und beide waren zu einem Restaurant auf dem Campus gewandert, das nur dem Lehrkörper der Universität zugänglich war. Menüauswahl und Qualität der servierten Mahlzeit waren dementsprechend.

Will Graham war sehr angetan von dem zwanglosen Rahmen, den Dr. Lecter ihm zum Auftakt anbot, und hatte absolut nichts gegen ein bisschen Smalltalk einzuwenden.

"Wie geht es Ihrem Sohn Josh und Ihrer bezaubernden Frau? Molly war ihr Name, wenn ich mich nicht irre?"

Dr. Lecter lächelte dem Sonderermittler über sein Weinglas hinweg zu. Er ließ sich in keinster Weise anmerken, wie wenig Will Grahams billiges Aftershave mit seinem gut temperierten Fleurie harmonierte. Manchmal erforderte es eine Situation eben, dass man über einige Dinge hinwegsah.

Will Graham erwiderte sein Lächeln.

Er kannte die unterschwelligen Vorbehalte, die Jack Crawford gegen diesen Mann hegte, und er gestand sich ein, dass auch er in Gegenwart des Doktors bisweilen eine eigenartige Sinnesempfindung verspürte. Es traf ihn meistens unvorbereitet, sodass er nie in der Lage war, die unmittelbare Ursache dafür auszumachen. Wenn es geschah, dann richteten sich die feinen Härchen an seinen Armen auf, aber nicht mehr, als wenn feinster Gazestoff seine nackte Haut streifen würde.

In seinen Reflexionen führte er dieses intuitive Erleben, diesen Hauch einer Ahnung, auf die Tatsache zurück, dass Dr. Lecter ein Mann war, den man nur äußerst schwer einschätzen konnte. Wenn man auf einen solchen Menschen trifft, hinterlässt das oft ein ungutes Gefühl.

Will Graham wusste genau, wie gut er in der Lage war, mit seiner besonderen Fähigkeit hinter die Grenzen normaler Wahrnehmung zu blicken. Seine Crux war, dass er zwar die Kraft seiner Vorstellung kannte, aber ihren Wahrheitsgehalt allzu oft in Frage stellte, wenn sie mit den Sinnenseindrücken am Rande seiner "gewöhnlichen" Wahrnehmung nicht übereinstimmte.

Seine normalen Sinne sagten ihm, dass er Dr. Lecter mochte. Dass er sich in der freundschaftlichen, ja beinahe väterlichen Gegenwart dieses Mannes wohlfühlte. Er vertraute Hannibal Lecter und seinen Fähigkeiten. Deshalb beschloss er, die Warnungen seines besonderen Sinnes als bloße Irritation abzutun und schob sie beiseite. Indem Will Graham dies zuließ, hatte er seinen entscheidenden Fehler eigentlich bereits begangen.

"Ich möchte nicht unhöflich sein, aber darf ich Ihnen eine private Frage stellen, Dr. Lecter? Sie beschäftigt mich schon seit unserer letzten Begegnung."

Seine Frage schien Dr. Lecter zu amüsieren. Er nickte zustimmend mit dem Kopf.

"Nur zu, Will, fragen Sie."

"Nun. Wir beide sehen berufsbedingt Tag für Tag so viel Böses und Schmerzliches... Himmel, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Molly und Josh sind für mich das Wichtigste auf der Welt. Ich ziehe soviel Kraft aus ihnen. Woher beziehen Sie Ihre Kraft, Dr. Lecter? Wer hilft Ihnen, damit fertig zu werden? Wie können Sie es überhaupt schaffen, alleine zu bleiben?"

Dr. Lecter schmunzelte.

"Fragen Sie mich gerade, warum ich nicht verheiratet bin, Will? Warum auf mich Zuhause keine Frau und Kinder warten?"

"Ja, ich denke, das meinte ich damit."

Diese Aussage quittierte Dr. Lecter mit einem ironischen Lachen.

"Will, ich bin ein Workaholic. Für das, was ich mache, brauche ich Zeit und eine ungestörte Privatsphäre. Eine eigene Ehefrau würde mich die Zeit kosten, die man für die Erhaltung einer Ehe aufwenden muss. Eine Frau und Kinder würden mich in meiner Effizienz ernsthaft behindern. Von frühester Jugend an ist mir meine Privatsphäre heilig gewesen und wenngleich eine Familie unbestreitbar ihre Vorteile hat, möchte ich meine Freiheit doch nicht dafür eintauschen."

Will Graham blickte beinahe etwas betreten von seiner Mahlzeit auf.

"Dr. Lecter, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise zu nahe getreten bin, dann tut mir das sehr leid. Verzeihen Sie mir."

Hannibal Lecter lächelte milde.

"Nun, ich bin kein Verächter des schönen Geschlechts, Will, eher im Gegenteil. Auch mein Leben wird von Zeit zu Zeit durch Frauen bereichert. Allerdings steht bei mir der Spaßfaktor diesbezüglich an erster Stelle, denn Verpflichtungen habe ich anderweitig genug. Nur lege ich ebenso wie in meiner beruflichen Arbeit auch im privaten Bereich sehr viel Wert auf Diskretion."

Er richtete sich auf und setzte sich bequemer hin.

"Zuweilen steht man in meiner Position einfach im Lichte des öffentlichen Interesses und da wäre es nur hinderlich, wenn die Leute allzu großen Einblick in mein Privatleben haben würden. Glauben Sie mir, wie jedermann habe auch ich einige Leichen im Keller, und wenn irgend möglich würde ich sie ganz gerne dort belassen."

Will seufzte innerlich. Dr. Lecter war seiner eigentlichen Frage geschickt ausgewichen. Um ihr gutes Verhältnis nicht zu trüben, beschloss Will, das Thema ruhen zu lassen, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, dass der gute Doktor ein solches Verhalten als grobe Unhöflichkeit empfinden würde. Stattdessen lachte er höflich über das Bonmot seines Gegenübers.

"Natürlich, Dr. Lecter. Ich verstehe Ihre Bedenken sehr gut. Und ich möchte noch einmal betonen, dass ich Ihnen mit dieser Frage nicht zu nahe treten wollte."

"Haben Sie nicht, Will. - Sind sie fertig? Dann gehen wir wieder in mein Büro hinüber und unterhalten uns jetzt über das Täterprofil."

"Gerne, Dr. Lecter."

Dr. Lecter bezahlte, dann standen beide auf und wanderten wieder zurück ins Institutsgebäude. Dort überreichte Graham ihm die Fallakte. Dr. Lecter bedang sich aus, sie eine halbe Stunde lang ohne Störung studieren zu dürfen. In der Zwischenzeit wartete Will Graham im Vorzimmer, wo ihm Dr. Lecters hübsche Sekretärin einen Kaffee servierte.

Exakt 30 Minuten später bat Dr. Lecter den Sonderermittler wieder zu sich in sein Büro.

"Nun, Will. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie damit beginnen würden, mir zu beschreiben, wo das FBI ermittlungstechnisch steht, beziehungsweise, wo Sie persönlich 'steckengeblieben' sind, sozusagen. Ich nehme an, Sie stimmen mir zu, wenn ich einen weiblichen Täter von vorneherein ausschließe?"

"Absolut, Dr. Lecter. Obwohl er die rituellen Komponenten seiner Morde erst nach Eintritt des Todes vollzieht, wurden alle Opfer erstochen oder erhängt, also auf sehr kräfteraubende Art und Weise zu Tode gebracht. Im Verlauf der Obduktionen wurden teilweise massive Abwehrverletzungen bei den Opfern festgestellt. Eine Frau hätte schlichtweg nicht die Kraft, um die ausgefeilten Mordszenarien des Rippers durchzuziehen."

"Gut. Ein Mann also. Welcher Tätertyp Ihrer Meinung nach?"

"Tja, da haben wir schon den ersten Punkt. Laut FBI-Lehrbuch sind Serienmörder ausnahmslos Täter, die ihre Opfer töten und quälen, um sexuelle oder emotionale Bedürfnisse auszuleben. Der Chesapeake-Ripper passt nicht in dieses Schema. Er mordet zwar unglaublich brutal und kaltblütig, aber es findet sich keine irgendwie geartete sexualisierte Komponente in seinem Tatablauf."

Will seufzte übertrieben auf und verdrehte die Augen an die Decke. Dann fuhr er fort:

"Andererseits zeigt aber die zeitliche Überprüfung seiner Morde eine signifikanten Verkürzung der Tatzwischenräume, was wiederum typisch ist für einen Täter mit einem sadistisch-sexuellen Erlebnishintergrund."

"Seine Rückfallgeschwindigkeit, hmm. Ja, ich sehe Ihr Dilemma, Will. Lassen wir die sexuelle Komponente einmal für eine Weile beiseite. Was ist mit einem Tätertyp mit stark ausgeprägten sozialen Bedingungsfaktoren?"

Will quittierte diesen Einwurf mit einem entnervten Schnauben.

"Ein weiterer Punkt. Auch hier passt nichts ins Schema. Ein Tätertyp mit sozialen Bedingungsfaktoren stammt üblicherweise aus einem aggressiven familiären Umfeld. Diese Typen gehen nicht einfach los und bringen jemanden um. Sie morden situationsbedingt, wenn sie sich provoziert oder erniedrigt fühlen, und das äußert sich in fehlender Planung und explosiver Gewaltausübung. Die Aggression muss raus, deshalb werden ja auch die Opfer viel beliebiger ausgesucht.

Die Gewaltkomponente des Rippers ist zwar auch ausgesprochen exzessiv, aber er sucht sich seine Opfer sehr genau aus, und er mordet ausgesprochen strategisch. Seine Handlungen sind wohlüberlegt und, wie ich ehrlich zugeben muss, - perfekt umgesetzt."

"Was ist mit anderen charakteristischen Merkmalen? Wenn ich die Obduktionsbefunde heranziehe, dann muss der Täter zumindest anatomische Grundkenntnisse haben. Ich meine, Will, betrachten Sie sich die Präzision der Schnitte... und er ist offensichtlich fetischistisch veranlagt. Ein Jäger und Sammler also, wenn Sie mich fragen. Wenngleich sich seine Interessen nicht auf bestimmte Organe richten dürften, wie mir scheint..."

Will Graham war plötzlich aufgestanden und ging erregt im Raum auf und ab.

"Nein, auch das ist eigenartig. Er behält offensichtlich Leichenteile seiner Opfer, aber wir haben nicht den blassesten Schimmer, warum und wozu."

Er schnaubte und hielt sich die Hand an die Stirn.

"Dr. Lecter, Sie wissen, dass ich mich manchmal in einen Täter hineinfühlen kann. Seine Motivationen spüren kann. Ich kann ihn gefühlsmäßig verstehen und das hilft mir dabei, ihn zu jagen."

Er blieb an einem der Fenster stehen. Die spärlichen Lichtverhältnisse im Raum machten aus den großen, glasigen Flächen tiefschwarze Spiegel, die es ihm ermöglichten, wie aus weiter Ferne sein diffuses Spiegelbild zu betrachten. Schwarze, reflektierende Flächen haben auf unser Bewusstsein dieselbe meditative Wirkung wie das sanfte Flackern einer Kerzenflamme oder das wabernde Farbenspiel der Glut in einem Kamin.

Will Graham konnte seine besondere Gabe hin und wieder bewusst einsetzen, aber weitaus öfter wurde er unbeabsichtigt und übergangslos in jenen Zustand erhöhter Wahrnehmung gezogen, der es ihm ermöglichte, die Grenzen normaler Wahrnehmung zu sprengen. Sein Gehirn arbeitete in diesem Zustand auf einer Ebene, die ihm im normalen Leben nicht zugänglich war. Es erschuf geistige Verknüpfungen höherer Ordnung, die dafür sorgten, dass er tatsächlich hinter die Dinge sehen konnte.

Er konnte fühlen wie er in diese höhere Sphäre eintauchte und versuchte, all seine Energien auf sie zu konzentrieren. Er hörte Worte, die wie ein fernes Echo in seinem Geigt widerhallten:

Spiegel sind ebenso wie unsere Augen, Fenster zur Seele. Wenn man in der Lage ist, dahinter zu blicken, dann können wir das, was ist, hinter dem Filter seiner äußeren Erscheinung erkennen. Und wir erkennen das, was wahr ist...

Er war so konzentriert, so in sich gekehrt, dass er nicht bewusst wahrnahm, wie sein Blick von seinem eigenen Spiegelbild auf das schemenhafte Abbild des Doktors glitt, der hinter ihm an seinem Schreibtisch saß. Er nahm ebenfalls nicht wahr, wie sich langsam die Härchen an seinen Armen aufstellten.

"Will, geht es Ihnen gut?"

Die Worte, so freundlich und milde sie gesprochen waren, knallten in Wills Bewusstsein mit der Wucht eines Baseballschlägers. Vor seinem geistigen Auge zersprang das schemenhafte Bild, das gerade erst begonnen hatte, Gestalt anzunehmen, in tausend Fragmente.

Der Aufprall in der realen Welt war enorm. Er fand sich wieder, schwer atmend, mit einem schalen Geschmack im Mund und mit der Stirn an das kalte Fensterglas gelehnt. Die Verknüpfung war so nahe gewesen, so nah...

"Ja, Dr. Lecter. Beinahe hatte ich es, aber..."

Er drehte sich um und blickte in Dr. Lecters Augen. Er kannte die Reaktion von Menschen, wenn sie seine besonderen Zustände miterlebten. Die Skala reichte von Verwunderung bis Entsetzen. Nicht so bei diesem Mann. In seinen Augen konnte er ein brennendes, beinahe gieriges Interesse sehen.

Er schüttelte seinen Kopf um den Eindruck zu verwischen. Und tatsächlich, als er Dr. Lecter wieder in die Augen blickte, traf er nur auf das ruhige, beherrschte, altbekannte Selbst des Doktors. Will versuchte den Ansatz eines Lächelns.

"Ich habe eine ausgeprägte Phantasie, Dr. Lecter, aber ehrlich gesagt: ich bin schlichtweg außerstande mir vorzustellen, welche bizarren Phantasien der Mann auslebt, wenn er auf die mitgenommenen Innereien oder Fleischteile seiner Opfer starrt."

"Ihre Fähigkeit muss zuweilen sehr belastend für Sie sein, hmm?"

Will Graham seufzte tief. Er beugte sich nach vorne und legte sein Gesicht in seine Hände. Als er sich wieder aufrichtete, strich er damit an seinem Gesicht entlang.

"Nicht nur zuweilen, Dr. Lecter, das kann ich Ihnen versichern. Diese Erfahrung ist sehr... intuitiv und ich kann sie in keinster Weise steuern. Es kann passieren, dass ich tagelang vor mich hin brüte und nicht weiterkomme und dann ergibt sich plötzlich eine Verbindung in meinem Kopf. Zu den ungewöhnlichsten Zeitpunkten. Beim Essen zum Beispiel oder wenn ich mit meinem Sohn spiele. Diese Gabe, wie Sie es nennen, verschönt mir mein Leben nicht gerade, dass muss ich schon sagen."

"Ich glaube, ich verstehe Sie sehr gut, Will. Aber nichtsdestotrotz ist es eine Gabe. Dadurch bekommen Ihre Denkansätze eine kreative Dimension und das wiederum ermöglicht es Ihnen, Täter auch fernab von Lehrbüchern und vorgegebenen Strukturen zu jagen. Ein ungewöhnliches Talent, in der Tat. Und wenngleich ich Ihnen zugestehe, dass es im normalen Alltag eine bisweilen recht belastende Komponente darstellen kann, muss ich Ihnen doch in Bezug auf unser Täterprofil folgende Frage stellen: Was sagt Ihnen Ihr Gefühl?"

"Ehrlich gesagt, ich habe keins, zumindest nicht im Moment. Mit jedem neuen Mord ist alles anders. Ich komme einfach nicht weiter."

Dr. Lecter runzelte zwar die Stirn, ging aber nicht weiter darauf ein.

"Gut, dann wieder zurück zu den Fakten. Ich persönlich würde diesem Täter keine sexuelle, sondern eher eine pathopsychologisch-emotionale Komponente zuordnen."

"Sie meinen, so etwas wie Wut, Hass oder Rache?"

"Exakt. Und er ist hochintelligent. Dafür spricht das Ausmaß seiner Planung und die Umsicht, mit der er seine Taten ausführt. Außerdem hat er definitiv anatomische Kenntnisse."

"Wenn wir von diesen Annahmen ausgehen, Dr. Lecter, dann würde das folgende Personengruppen einschließen: Ärzte, die ihre Konzession verloren haben, Pflegepersonal, das entlassen wurde..."

"...Medizinstudenten, Metzger, entlassene Leichenhallenwärter und so weiter. Ich denke, damit haben Sie eine ganze Menge in der Hand, um weitere Ermittlungen anstellen zu können, stimmen Sie mir zu, Will? Denn wenn Sie das tun, dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir unsere Besprechung an dieser Stelle abbrechen. Es ist schon spät und ich habe noch einige Vorbereitungen für morgen zu treffen. Außerdem hat Sie unser Gespräch ziemlich angestrengt, nicht wahr?"

Will Graham nickte. Er fühlte sich tatsächlich entsetzlich ausgelaugt.

"Ja. Sie haben recht, Dr. Lecter. Es ist ein guter Zeitpunkt, um für heute zum Schluss zu kommen."

"Melden Sie sich ruhig, Will, wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben. Ich stehe Ihnen gerne und jederzeit zur weiteren Verfügung - und Will... halten Sie mich über die weiteren Ermittlungsergebnisse auf dem laufenden."

"Selbstverständlich werde ich Sie auf dem laufenden halten, Dr. Lecter. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht."

"Gute Nacht, Will."

Will Graham nahm seinen Mantel an sich und schickte sich an, das Büro zu verlassen. An der Türe angekommen, drehte er sich noch einmal um.

"Dr. Lecter. Ich möchte Ihnen noch sagen wie sehr ich die Gespräche mit Ihnen schätze. Auch bei Hobbs steckte ich fest, aber mit Ihrer Hilfe habe ich es damals doch noch geschafft, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass sich das Ganze hier wiederholen könnte."

"Oh, danke, Will. Das ist fast zuviel der Ehre, aber ich kann nicht mehr tun als Ihnen Hilfestellung bieten und Ihre Gedanken in eine gewisse Richtung lenken. Sie haben wirklich erstaunliche Fähigkeiten. Wenn das hier alles vorbei ist, dann kommen Sie doch einmal zu mir. Ich würde mich zu gerne mit Ihnen darüber unterhalten."

*****

Nachdem Will Graham gegangen war, ließ Hannibal Lecter das vorangegangene Gespräch noch ein wenig auf sich wirken.

Das Studium der Fallakte hatte ihm nur bewiesen, was er ohnehin schon wusste. Das FBI hatte keine wirklich konkrete Vorstellung darüber, nach wem es hier eigentlich suchte. Die Ansätze für Täterprofile gingen allesamt von falschen Ausgangsbedingungen aus und die Modifikationen, die nach jedem Mord daran vorgenommen worden waren, machten den grundlegenden Denkfehler in dieser Struktur nicht wett.

So, wie es im Moment aussah, hatte Hannibal Lecter von Jack Crawford und der ermittelnden Sonderkommission nicht das Geringste zu befürchten. Bei Sonderermittler Will Graham lag die Sache allerdings anders.

Obwohl er ein nur schwer einzuschätzendes Gefahrenpotential in sich trug, war ihm der junge Mann nicht unsympathisch. Kein Widerspruch in sich, denn in Hannibal Lecters Erlebenswelt konnten die Sympathie für jemanden und das Bedürfnis, diesen Jemand zu töten, gleichwertig nebeneinander existieren. Der Unterschied zwischen Sein und Nichtsein hatte kaum etwas mit den persönlichen Vorteilen oder Nachteilen zu tun, die sich aus dem Ableben der betreffenden Person ergaben, sondern maß sich allein an dem Unterhaltungswert, den Hannibal Lecter einer Person zugestand.

Und Will Grahams Unterhaltungswert war enorm. Zumindest im Moment noch. Seine ungewöhnliche Fähigkeit faszinierte Hannibal Lecter nicht wenig und deshalb musste sich der junge Mann im Moment auch keine Sorgen machen. Zumal er in dem Special Agent etwas von sich wiederzuerkennen glaubte.

Auch Hannibal Lecters Erfolge als Psychiater kamen nicht von ungefähr. Das, was andere Kollegen als "bestechende Perzeption" bezeichneten, war im Grunde genommen nichts anderes als eine nahezu perfekte Mischung seiner nach menschlichen Maßstäben nicht messbaren Intelligenz und seiner ebenfalls jedes normale Maß sprengenden Vorstellungskraft.

Obwohl nach eigener Einschätzung Welten zwischen Hannibal Lecters Intelligenz und der von Will Graham lagen, herrschten andere Vorraussetzungen, wenn es um das Erleben kreativerer Dimensionen ging. Auf dieser Ebene waren sich Hannibal Lecter und Will Graham tatsächlich ähnlich.

Allein dass es jemanden gab, der das Potential besaß, seiner Vorstellungskraft zu folgen, ihn auf den verschlungenen Pfaden seiner inneren Wahrnehmung zu begleiteten, faszinierte und erschreckte Lecter gleichermaßen. Aber Furcht war kein Gefühl, dem Hannibal Lecter in seinen Betrachtungen irgendeine gesteigerte Bedeutung zumaß. Ebenso wenig wie Sympathie.

Selbstverständlich würde Hannibal Lecter Will Graham töten, wenn dieser jemals die Wahrheit herausfinden sollte. Das lag durchaus im Bereich des Möglichen. Ansonsten würde es auch sehr unterhaltend sein, Will Grahams Niedergang zu verfolgen. Und dass es früher oder später dazu kommen würde, stand außer Frage. Eher früher als später, nach Hannibal Lecters Einschätzung.

Um das labile Gleichgewicht, in dem sich der junge Mann befand, auf die Seite des Chaos ausschlagen zu lassen, genügte eine kleine Verschiebung innerhalb seiner stabilisierenden Faktoren. Ein Unglück, das seine Familie betraf, zum Beispiel.

Auf sich alleine gestellt, würde Will Graham dem Spannungsfeld zwischen den moralischen und ethischen Spielregeln, die ihm die Gesellschaft abverlangte, und der verstörenden Welt seiner Phantasien erliegen. Er würde diesen Konflikt allerdings nicht nach außen tragen und andere Menschen dafür büßen lassen, wie die Mörder, die er so eifrig jagte. Nein, er würde - wohlerzogener Junge, der er war - sein eigener Mörder sein.

Sorge war kein Gefühl, durch das das Verhalten eines Hannibal Lecter in irgendeiner Weise beeinträchtigt wurde. Und selbst wenn er Zugang zu dieser Emotion gehabt hätte, hier wäre sie vollkommen fehl am Platz gewesen. Er hielt alle Fäden in seinen Händen.

Keine Gefahr also. Nicht die geringste.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 3: Interferenzen

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
Keine Verletzung von Urheberrechten ist beabsichtigt.

© HopkinsVille. All rights reserved.
www.hopkinsville.de

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)