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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)

Kapitel 4: Immer die Beste

Ihren kurzen Moment der Unbeherrschtheit büßte Clarice mit einem sehr langen Abend in der Bibliothek. Für die erfolgreiche Absolvierung seines Kurses hatte Dr. Lecter eine recht aufwendige Abschlussarbeit von seinen Studenten gefordert. Sie sollten einen bekannten Serienmörder nach den von ihm in seinem Vortag besprochenen psychologischen und kriminologischen Kriterien einordnen und seine Motivationen, sowie die seinen Taten zugrunde liegenden krankhaften Denkmuster nachvollziehen.

Clarice war in keiner besonders guten emotionalen Verfassung nach diesem Nachmittag. Die Skala ihrer Gefühle pendelte zwischen Wut, Demütigung und dem Bewusstsein, möglicherweise einen großen Fehler gemacht zu haben, auf und ab. Dazu addierten sich noch eine gute Portion Zorn auf sich selbst und das enorme Bedürfnis, ihr Können unter Beweis zu stellen und wieder Boden gut zu machen.

Sie überlegte sehr lange, welcher der bereits bekannten Serienmörder ihr genug Material für eine wirklich gute Seminararbeit liefern könnte. Doch trotz intensivster Überlegungen kam sie auf keinen grünen Zweig. Es fehlte jeder Variante, die sie durchdachte, das gewisse Etwas, das ihre Arbeit von denen ihrer Kommilitonen abheben würde.

Ausgelaugt und frustriert von ihren vergeblichen Versuchen, ihre durchaus vorhandene Intelligenz in einem würdigen Rahmen zu präsentieren, beschloss sie, eine kurze Kaffeepause zu machen. Koffein kann die seltsamsten Wirkungen auf unseren Körper haben. Bei Clarice Starling formte sich, nach dem genussvollen Einbringen dieser Substanz in ihren Körperkreislauf, eine beinahe unverschämte Idee.

Dr. Lecter hatte im Prinzip keine genauen Angaben darüber gemacht, ob der Serienmörder bereits gefasst sein musste oder nicht. Sie würde seine Vorgaben einfach ein wenig dehnen und eine Arbeit über einen Täter schreiben, der bisher noch nicht gefasst worden war. Das hätte darüber hinaus auch den Vorteil, dass sie genug Raum für eigene Spekulationen haben würde und nicht auf die bereits publizierten Stellungnahmen der Hundertscharen an Psychologen, Psychiatern und Ermittlungsbeamten würde zurückgreifen müssen.

Und wer würde sich für eine solche Arbeit besser eignen, als der Serienmörder, der seit Wochen in aller Munde war: der Chesapeake-Ripper.

Zutiefst zufrieden mit ihrer - wie sie dachte – ungewöhnlichen Idee, stürzte sie sich mit Feuereifer auf die Materie. Sie verbrachte den ganzen weiteren Abend damit, Mikrofilme zu durchforsten und in allen über den Chesapeake-Ripper verfügbaren Zeitungsartikeln und Interviews nachzulesen. Am Ende ihres Arbeitstages – sie war schon lange die einzige verbliebene Benutzerin der Bibliothek – hatte sie das Gerüst ihrer Arbeit zu Papier gebracht. Sie beschloss, es damit für diesen Tag gut sein zu lassen.

Mit sich zufrieden, legte sie sich ins Bett und schlief – für ihre Verhältnisse außerordentlich ruhig – bis in den späten Vormittag des nächsten Tages hinein. Da sie an diesem Tag keine Vorlesungen hatte, beschloss sie, es heute ausnahmsweise einmal langsamer anzugehen. Sie ließ sich viel Zeit damit, sich zu waschen und anzuziehen und packte ganz gemütlich ihre Sachen zusammen, ehe sie sich auf den Weg zurück in die Bibliothek machte.

Irgendwie assoziierte ihr Unterbewusstsein das Knirschen des Schnees unter ihren Füssen mit dem Knurren ihres Magens und ihr fiel ein, dass sie eigentlich seit gestern Nachmittag nichts Besonderes mehr gegessen hatte. Es war schon beinahe Mittag und deshalb beschloss sie, zuerst noch schnell in der Mensa der Universität vorbeizuschauen.

Die beiden an diesem Tag angebotenen Menüs waren leider nicht unbedingt nach ihrem Geschmack. Clarice war keine besondere Liebhaberin von Innereien, aber sie war auch absolut keine Vegetarierin. Daher musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und die gebratene Leber mit Reis nehmen.

Noch während sie an ihrer Leber herumkaute, überkam sie unvermutet der Anflug einer Idee, die in der lautstarken Atmosphäre des Speisesaales allerdings noch nicht die obersten Schichten ihres Bewusstseins erreichte.

Erst einige Minuten später, als sie in der Bibliothek einen Zeitungsartikel zur Hand nahm, in welchem, mit der für die Klatschpresse so typischen genussvollen Liebe für das grausige Detail, die fehlenden Leichenteile der Opfer aufgelistet worden waren, formulierte sich der Gedanke bewusst in ihrem Gehirn…

Nicht wenig erschrocken tat sie das Ganze zunächst als einen Streich ihrer überreizten Phantasie ab. Als sie aber ihren ersten Widerwillen beiseite geschoben hatte und ihren Gedankengang zu Ende führte, stellte sie erstaunt fest, dass durch diesen Geistesblitz scheinbar einige sehr entscheidende Puzzlesteinchen an ihre Plätze gewandert waren.

Clarice war in heller Aufregung. Durfte sie eine solche Vermutung überhaupt anstellen? Durfte sie eine solche Vermutung unterschlagen? Konnte sie einen derart unerhörten, absolut unglaublichen Gedankengang wirklich in einer Seminararbeit präsentieren? Einer Kapazität wie Dr. Lecter?

Sie dachte den ganzen Donnerstagnachmittag über dieses Problem nach und auch den größten Teil des Donnerstagabends. Schließlich beschloss sie, das Dilemma damit zu lösen, dass sie einfach zwei Versionen des Themas schrieb. Die eine Version gab sie in einen blauen Ordner, die andere, die mit der Ungeheuerlichkeit, wie sie ihren Gedankenblitz mittlerweile scherzhaft nannte, in einen roten. Sie beschloss, sich aus dem Bauch heraus zu entscheiden, wenn sie die Arbeit abgab.

In dieser Nacht schlief Clarice wieder bedeutend schlechter. Als sie dann am Freitagvormittag das Sekretariat betrat, war sie immer noch unentschlossen. Schließlich begann die Sekretärin ungeduldig mit ihren schön gepflegten Fingernägeln auf dem Tischchen vor sich herumzutippen und blickte Clarice ungehalten an.

Clarice ignorierte die Frau und ihre Fingernägel und dachte nach. Sie wollte eine Anerkennung für die Leistung, die sie mit dieser Seminararbeit erbracht hatte. Sie wollte bei Dr. Lecter wieder Boden gutmachen. Sie hatte aber auch das Gefühl, etwas außergewöhnliches entdeckt zu haben. Schließlich gab sie mit einem Seufzer ihre Arbeit ab. Es war der rote Ordner.

Als sie das Institutsgebäude wieder verließ und auf den Gehweg trat, versuchte sie sich Mut zu machen und dachte ironisch bei sich:

Ach, was soll's! Zumindest ist es keine Seminararbeit wie jede andere. Entweder lacht er sich halbtot über das Ganze oder er zitiert mich zu sich und bringt mich um.

Da Clarice in ihrer Unschuld absolut keine Ahnung davon hatte, wie unglaublich nahe ihr privater Witz die Wahrheit getroffen hatte, verbrachte sie ein sehr angenehmes Wochenende im Kreis einiger Freunde. Das fröhliche Zusammensein mit anderen Menschen schuf eine gewisse Distanz zu den Vorkommnissen der letzten Woche. Sie fühlte sich wieder gut und war sogar ein bisschen stolz auf sich und ihre provokative These bezüglich des Rippers.

Dieses Gefühl dauerte genau bis zum Montagmorgen. Denn anstatt ihrer Seminararbeit wurde ihr im Sekretariat ein Kuvert ausgehändigt. Als sie das Kuvert öffnete, fiel ihr ein kleines Kärtchen entgegen, auf dem in der ungewöhnlich akkuraten und gleichmäßigen Handschrift, die sie von Dr. Lecters Tafelschrift nur allzu gut kannte, eine kurze Mitteilung stand:

    Sie finden meine Praxis in 1825 Brett Pl., Baltimore MD21202.

    Meine Sprechstundenzeiten: Wochentags 8Uhr – 11Uhr und 14 – 18Uhr, Sonn- und Feiertags: 15-19 Uhr

    Ich rate ihnen dringend, mich umgehend persönlich aufzusuchen.

    Hannibal Lecter, M.D.

Clarice Starling verschwendete keine Zeit. Nachdem sie die Angelegenheiten des Tages erledigt hatte, setzte sie sich sofort in ihr Auto und fuhr nach Baltimore.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
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Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

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