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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)

Kapitel 5: Der Luftzug der Macht

Als Clarice die Praxis von Dr. Hannibal Lecter in einem der besten Vororte von Baltimore betreten hatte, stockte ihr zunächst der Atem. Sie hatte diesen Mann als sehr wohlhabend eingestuft, aber als sie nun das teure und antike Interieur betrachtete, mit dem bereits das Wartezimmer seiner Patienten ausgestattet war, bekam sie eine vage Vorstellung davon, wie wohlhabend Dr. Lecter wirklich war. Zweifellos war das private Zuhause dieses Menschen bis unter das Dach vollgestopft mit teuren Antiquitäten.

Sie war nicht alleine im Warteraum, aber die einzige andere anwesende Person war offensichtlich Dr. Lecters Sekretärin, eine hochgewachsene, ältere Dame. Als sie an den Schreibtisch der Frau trat, musste sie unwillkürlich schlucken. Das unangenehme Gefühl, das sie seit dem Erhalt des Kärtchens nicht mehr losgelassen hatte, verdichtete sich auf eine Art und Weise, die es ihr schwer machte zu atmen, wenn sie an die unmittelbar bevorstehende Begegnung mit dem Doktor dachte.

Sie hatte keine geringen Schwierigkeiten, die Frau davon zu überzeugen, dass sie zwar keinen Termin, wohl aber eine Aufforderung von Dr. Lecter erhalten hatte, sich unverzüglich bei ihm zu melden. Das Verhalten der älteren Dame verriet eine abschätzende Überheblichkeit ihr gegenüber und sie verfluchte sich im Stillen dafür, das Kärtchen zu Hause gelassen zu haben.

Was hatten diese Leute nur immer an ihrer Kleidung auszusetzen? Sie wusste genau, dass Dr. Lecters Sekretärin sie aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes ein- und abschätzte. Diese Erkenntnis gefiel Clarice überhaupt nicht, denn sie war sehr bemüht darum, ihre ländlichen Wurzeln und ihre bescheidene Herkunft hinter sich zu lassen. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, manche Wünsche diesbezüglich scheiterten einfach an ihrem knappen Budget.

Immerhin konnte sie die Sekretärin nach einigem Hin- und Her davon überzeugen, wenigstens bei Dr. Lecter anzufragen, ob er sie denn heute noch empfangen würde. Die Frau – Thelma – wie Clarice auf ihrem Namensschild gelesen hatte, bedeutet ihr, in einem der sehr bequem aussehenden Stühle Platz zu nehmen.

Als sich die Türe zum Sprechzimmer hinter Thelma geschlossen hatte, erinnerte sich Clarice an ein Wort, das über der Tür der Direktion des Weisenhauses angeschlagen gewesen war und das sich wieder einmal als wahr erwiesen hatte: Im Vorzimmer ist der Luftzug der Macht immer am stärksten.

*****

"Ja, Thelma?"

Die elegant gekleidete ältere Dame, die auf diese Aufforderung hin das Sprechzimmer betrat, ließ in ihrem Verhalten und in ihrer Körpersprache keinen Zweifel an dem Respekt und der Sympathie, welche sie für ihren Arbeitgeber empfand. Trotzdem gab es da eine Komponente, die dem Mann, der gerade auf ihr dezentes Klopfsignal geantwortet hatte, verriet, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte.

"Entschuldigen Sie die Störung, Doktor, aber da ist eine junge Frau, die Sie sprechen möchte. Ich wollte sie ja abweisen, weil sie keinen Termin vorweisen konnte, aber sie behauptet steif und fest, dass Sie selber ihre Anwesenheit verlangt hätten und besteht darauf, dass ich sie ankündige. Vielleicht könnten Sie..."

Der Angesprochene, der hinter seinem massiven, mahagonifarbenen Schreibtisch saß, schob den Aktenordner zur Seite, dem er sich gerade zuvor gewidmet hatte, und sah der älteren Dame freundlich in die Augen, die sich daraufhin sichtlich entspannte. Amüsiert dachte Hannibal Lecter bei sich, wie unglaublich wenig Einsatz von seiner Seite es doch bedurfte, die einfachen Gemüter, die ihn umgaben, in Sicherheit zu wiegen.

Seine Sekretärin gehörte zu einer Kategorie Mensch, der er ausschließlich aufgrund ihrer Effizienz eine gewisse Lebensberechtigung zusprach, die er aber ansonsten weitestgehend ignorierte. Und Thelma war effizient, sehr effizient sogar. Außerdem war eine langweilige Persönlichkeit noch lange kein Grund, unhöflich zu sein.

"Ah, das geht in Ordnung, Thelma. Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen. Schicken Sie mir die junge Frau ruhig herein. Ach, und Thelma..."

"Ja, Dr. Lecter?"

"Ich möchte für die Dauer dieses Besuches nicht gestört werden. Stellen Sie auch keine Anrufe durch. Haben wir eigentlich noch irgendeinen Termin für heute?"

"Nein, Dr. Lecter. Mrs. Amesworthy hat darum gebeten, ihren Termin auf übermorgen zu verschieben. Ich wollte ohnehin gerade mit Ihnen darüber sprechen. Wenn das für Sie in Ordnung geht, dann rufe ich sie gleich an und mache einen neuen Termin."

Dr. Lecter lehnte sich in seinem bequemen Ledersessel zurück und stützte beide Hände an den Sessellehnen ab. Er schenkte seiner Sekretärin ein freundliches Lächeln, das sie unbewusst sofort erwiderte.

"Machen Sie das ruhig, Thelma. Ach ja, und ehe ich es vergesse. Vereinbaren Sie doch mit Dr. Bloom einen Termin in Sachen Thomas Wigren. Er weiß Bescheid. Irgendwann in der nächsten Woche würde mir passen. Könnten Sie das noch für mich erledigen?"

Thelma reagierte auf seinen als Bitte formulierten Auftrag beinahe enthusiastisch,

"Aber natürlich, Dr. Lecter. Ich erledige das sofort für Sie."

"Danke, Thelma, was würde ich nur ohne Sie machen. Danach können Sie von mir aus ruhig nach Hause gehen. Sie brauchen die Praxis auch nicht abzuschließen. Ich denke, ich werde heute wieder einmal länger arbeiten und das ganze liegengebliebene Aktenmaterial der letzten Woche aufarbeiten."

"Ja, danke, Dr. Lecter. Das kommt mir heute Abend wirklich sehr gelegen. Wegen der Familie, Sie verstehen schon. Ich bekomme heute noch Besuch von meiner Schwester."

Ah, die Schwester. Gott, wie langweilig.

"Meredith? Wie nett, sagen Sie, wie geht es ihr? Nun, ich hoffe, Sie verbringen einen schönen Abend zusammen. Würden Sie denn so freundlich sein und ihr meine allerbesten Grüße ausrichten?"

Thelma richtete sich auf und drückte ihren Rücken durch. Diesmal lächelte sie bewusst und sie legte die ganze Wärme und Freundlichkeit, zu der sie fähig war, hinein. Natürlich entging das Dr. Lecter keineswegs, aber diese offen zur Schau gestellte Sympathie prallte an ihm ab wie Regentropfen an einem Stück Gummi. Dr. Lecter war in keinster Weise in der Lage, derartige Gefühle wertzuschätzen. Er hatte einfach keine Verwendung dafür.

"Das mache ich, Dr. Lecter. Sie wird sich sicher darüber freuen. Wirklich. Wir sind Ihnen alle ja so dankbar für alles, was Sie für sie getan haben. Nun, ich nehme an, da Sie nicht mehr gestört werden wollen, sollte ich mich vielleicht gleich jetzt von Ihnen verabschieden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Dr. Lecter."

Ja, Thelma war in der Tat eine sehr dezente Person. Sowohl in ihrem Auftreten, als auch in ihrer Arbeitsweise. Er schätzte ein dezentes Verhalten bei Menschen, die ihm untergeben waren. Er empfand ein derartiges Verhalten ihm gegenüber als angemessen. Solange das so blieb und Thelma ihre Brauchbarkeit nicht überlebte, hatte sie von ihm nichts zu befürchten.

*****

Als Clarice endlich das Allerheiligste betreten durfte, wurden ihre Erwartungen nicht enttäuscht. Das Sprechzimmer war opulent mit schweren mahagonifarbenen Holzmöbeln ausgestattet. Es war bereits dunkel geworden und von draußen drang kein Licht mehr durch die Fenster. Zwei schalenförmige Stehlampen tauchten den Raum in sanftes Licht und ließen die Farbe des Holzes dunkler erscheinen als es war. Gleichzeitig verbreitete diese Kombination aus dunklem Holz und mattem Licht eine warme, geradezu heimelige Atmosphäre.

Als Clarice ihren Blick durch das Zimmer schweifen ließ, bemerkte sie an den Wänden etliche Zeichnungen, Stiche und Radierungen. Sie war keine Kunstkennerin, aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es sich dabei um Originale handeln musste. Etwas anderes war bei diesem Ambiente einfach nicht vorstellbar. In dem Raum befanden sich auch etliche Bücherregale, vollgestellt mit zum Teil sehr alt aussehenden medizinischen Büchern. Sichtbarer Beweis für die kontextuelle Intelligenz des Herrschers über dieses Reich.

Alles in allem war Clarice die Einrichtung für ihren persönlichen Geschmack zwar ein bisschen zu wuchtig, aber Hannibal Lecter besaß ganz offensichtlich Stil und Geschmack. Und er hatte zweifellos sehr viel Geld.

In der Mitte des Raumes, eine Bücherfront hinter sich, saß der Mann, der sie zu sich bestellt hatte.

Er ist dieser Umgebung in jeder Hinsicht angemessen, dachte sie unwillkürlich bei sich. Diesmal trug er kein Sakko, sondern lediglich ein sehr elegantes, weißes Hemd. Die obersten Knöpfe waren leger geöffnet und ließen den Ansatz seiner Brustbehaarung erkennen. Seine Haare waren glatt nach hinten gekämmt.

Einen flüchtigen Augenblick lang wurde Clarice bewusst, dass Dr. Lecter offenbar auch als Mann auf sie wirken konnte. Diese ungewollte weibliche Reaktion konnte aber in keinster Weise die Aura der Strenge, die ihn umgab, mildern. Inmitten dieses Raumes mit all seinen schweren Stilmöbeln und der vollgestellten Bücherregale, bis oben hin angefüllt mit goldbedruckten, antiken Buchrücken, wurde die körperliche Präsenz dieses Mannes auf eine geradezu atemberaubende Art und Weise verstärkt.

Nachdem sie den Raum betreten hatte, blieb sie in einem angemessen Abstand vom Schreibtisch stehen. Dr. Lecter schien in einen der vielen Ordner vertieft zu sein, die er auf seinem breiten Schreibtisch gestapelt hatte. Nichts an ihm gab zu erkennen, dass er ihre Anwesenheit bemerkt hatte.

Sie stand recht verloren in der Mitte des Raumes und verspürte plötzlich den starken Drang etwas zu sagen, und wenn auch nur, um die drückende Stimmung, die sie umfing, ein wenig abzumildern. Clarice räusperte sich.

"Dr. Lecter."

Er blickte sie an, machte aber keine Anstalten, ihr aus ihrer Misere zu helfen.

"Sie kennen mich sicher noch. Ich bin Clarice Starling, Sie wollten mich sprechen."

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und neigte seinen Kopf. Dabei ließ er sie keine Sekunde lang aus den Augen. Schließlich hob er die Augenbrauen.

"Guten Abend, Miss Starling."

Mittlerweile hatte Clarice wirklich große Mühe, das Zittern ihres Körper unter Kontrolle zu halten. Sie hätte sich zu gerne hingesetzt, und es war auch ein Stuhl vorhanden, aber der Mann vor ihr machte keine Anstalten, ihn ihr auch anzubieten. Dr. Lecter war sich seiner Machtposition bewusst und wollte ganz offensichtlich, dass sie den Anfang machte.

"Ich denke, Sie haben mich herbestellt wegen der Seminararbeit, die ich Ihnen abgegeben habe, Dr. Lecter. Ich weiß, ich habe Ihre Vorgaben ein wenig freizügig ausgelegt und ich habe in dieser Arbeit eine Vermutung angestellt, die, nun ja..."

Sie stockte, riss sich dann aber zusammen und fuhr mit belegter Stimme fort: "Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die Möglichkeit geben würden, diese Sache mit Ihnen ernsthaft zu diskutieren."

Er sah sie einige Sekunden lang intensiv an, ehe er die Hand hob und ihr mit einer eleganten Geste bedeutet, sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu setzen. Erleichtert machte Clarice von diesem Angebot Gebrauch und setzte sich. Unbewusst nahm sie aber nicht wirklich Platz, sondern setzte sich lediglich auf die vordere Kante des Sessels.

Diese Aktion entging Dr. Lecters scharfem Auge keineswegs und sie offenbarte ihm zwei Tatsachen: Clarices starke Nervosität, und ihre gut entwickelte Fähigkeit, sich in einer Stresssituation zusammenzunehmen. Er erinnerte sich an die Situation im Hörsaal und konnte nicht umhin, ihr innerlich ein kleines Kompliment zu machen. Dieses Mädchen hatte offensichtlich Rückgrat.

Als sie vor ihm saß, neigte er sich nach vorne und schob einen roten Ordner zu ihr herüber, der seitlich auf seinem Schreibtisch gelegen hatte und den sie sofort als den Ihren identifizierte.

Dann lehnte er sich wieder in seinem Sessel zurück, drehte sich ein wenig, sodass sein Oberkörper ihr nun direkt zugewandt war, und sagte:

"Mich würde wirklich ernsthaft interessieren, was Sie sich dabei gedacht haben, als Sie dieses kleine Machwerk abgegeben haben. Ihre Überlegungen sind zugegeben... nun, sagen wir einmal, interessant. Aber glauben Sie wirklich, dass ich meine Zeit damit verschwende, diese Arbeit mit Ihnen zu diskutieren?"

Er machte eine gewichtige Pause und ließ die abweisende Wirkung seiner Worte in sie sinken, ehe er fortfuhr,

"Haben Sie eine ungefähre Ahnung davon, wie viel eine Stunde meiner Arbeitszeit Sie kosten würde, Miss Starling? Nein? Ich denke, Sie übersteigt ihre finanziellen Kapazitäten bei weitem. Also lassen Sie den Ball schön bei mir und beantworten Sie mir meine Fragen, damit ich hier nicht den Eindruck bekomme, von Ihnen professionell in Anspruch genommen zu werden."

Clarice spürte wie sie rot wurde.

"Ja, Dr. Lecter."

"Gut. Sagen Sie mir, Miss Starling. Wie kommt eine scheinbar so intelligente junge Frau wie Sie dazu, eine so aus dem Rahmen fallende Theorie über einen Serienmörder zu entwickeln, der noch nicht einmal gefasst ist und über dessen Motivationen und Zwangsvorstellungen viele angesehene Vertreter meines Faches seit geraumer Zeit diskutieren, ohne wirklich auf einen grünen Zweig zu kommen?"

Bevor Clarice die Arbeit abgab, hatte sie bereits an die Möglichkeit gedacht, dass genau das hier passieren konnte. Sie war sich der möglichen Konsequenzen vollkommen bewusst gewesen und hatte sich dennoch dafür entschieden. Sie war kein Feigling und deshalb würde sie auch jetzt keinen Rückzieher machen. Aber – so ermahnte sie sich selber -, sie sollte in ihrem eigenen Interesse diesem Mann gegenüber lieber nicht noch einmal einen Fehler machen.

Clarice atmete tief durch. Sie musste eine Entscheidung treffen und sie wollte sich gut entscheiden.

Sie konnte natürlich versuchen, ihm eine abstruse Geschichte aufzutischen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er sie sofort durchschauen würde, war ziemlich groß. Sie konnte es aber auch einfach mit der Wahrheit versuchen. Clarice entschied sich für letzteres.

"Zwei Ursachen. Ich hatte das Gefühl, mein unhöfliches Benehmen im Hörsaal Ihnen gegenüber wieder gutmachen zu müssen. Deshalb wollte ich eine Arbeit schreiben, die sich in irgendeiner Weise von denen der anderen abhob."

Sie machte eine Pause, um seine Reaktion abzuwarten. Es kam keine.

"Als ich das Gerüst meiner Arbeit im Großen und Ganzen zu Papier gebracht hatte, ging ich in den Speisesaal, um etwas zu essen. Es gab geröstete Leber mit Reis."

Als ihr Schweigen klarmachte, dass sie dem Ganzen nichts mehr hinzuzufügen hatte, hob er seine Augenbrauen.

"Nichts weiter?"

"Nichts weiter."

Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille. Tatsächlich handelte es sich um einen der raren Momente, in denen Hannibal Lecter von einem Menschen wirklich überrascht worden war. Schließlich verschränkte er seine Hände unter dem Kinn und spitzte nachdenklich die Lippen.

"Sie sind sehr ehrgeizig, nicht wahr, Miss Starling? Sie geben nicht so leicht auf."

"Ja."

"Und das ist der eigentliche Hauptgrund, warum Sie diese Arbeit geschrieben haben. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich rechne es Ihnen durchaus als Pluspunkt an, dass Sie den Versuch gemacht haben, durch Leistung zu glänzen. Aber haben Sie wirklich ernsthaft geglaubt, ich würde diesen billigen Versuch an meine intellektuelle Eitelkeit zu appellieren, nicht als das entlarven, was er ist?"

"Und was habe ich versucht, Dr. Lecter?"

"Nun, ich denke, Sie haben versucht, eine Arbeit zu schreiben, die mich dazu bewegen würde, Ihnen trotz ihres Fauxpas im Hörsaal die für Jack Crawfords Seminar so notwendige ausgezeichnete Note zu geben. Dafür war Ihnen jedes Mittel recht. Sogar die Zuflucht zu einer reichlich weit hergeholten und abstrusen Theorie."

"Wahrscheinlich haben Sie recht."

"Nein, nicht wahrscheinlich, Miss Starling. Sie wissen genau, dass es so ist."

Clarice hatte seiner Argumentation nichts entgegenzusetzen und senkte ihren Blick ein wenig. Hannibal Lecter nahm diese defensive Geste ihrerseits mit Interesse und Wohlwollen zur Kenntnis.

"Ja, sie haben recht."

"Gut, dann würde ich vorschlagen, Sie öffnen nun den Ordner und teilen mir mit, ob Sie mit der Bewertung Ihrer Arbeit zufrieden sind."

Clarice tat wie ihr geheißen worden war und öffnete den Ordner. Als sie die Note las, die da in dicken roten Buchstaben quer über die erste Seite ihrer Arbeit geschrieben worden war, verschwammen ihr kurzfristig die Wörter vor den Augen. Mit dicker, roter Farbe geschrieben und eingekreist stand da: "Zwei minus". Für Jack Crawfords Kurs würde sie wenigstens eine glatte Zwei brauchen. Sie wusste, dass Dr. Lecter das auch wusste.

Obwohl sie sich gerade zuvor selber an die Wichtigkeit erinnert hatte, ruhig zu bleiben, war sie absolut machtlos gegen den Ärger, der nun wie die Luftperlen in einer Mineralwasserflasche in ihr hochblubberte.

"Das ist nicht fair."

"Das Leben ist niemals fair, Miss Starling. Ihre Bewertung ergibt sich aus einer Zwei für Ihre Arbeit und einer Minus für Ihr disziplinloses Verhalten im Hörsaal. Ich schlage vor, Sie nehmen das Ganze hin und lassen es unter die Kategorie Lehrgeld zahlen fallen."

Clarice hatte das Gefühl als würde sich ein Loch im Boden auftun. Dieser reiche, arrogante Bastard hatte soeben ihre gesamte Zukunftsplanung über den Haufen geworfen. Was bildete er sich eigentlich ein? Er hatte offenbar absolut keine Ahnung davon, wie wichtig es für eine praktisch mittellose Studentin wie sie es war, einen ausgezeichneten Studienerfolg nachweisen zu können.

Die Erkenntnis, dass sie damit Jack Crawfords Kurs nicht würde abschließen können, traf sie siedend heiß. Und schlimmer noch. Ein Versagen in einem ihrer Hauptfächer konnte ihr das Stipendium kosten und damit ihren gesamten Studienerfolg gefährden. Dieses kleine Minus wog schwerer als es zunächst den Anschein machte. Es traf sie nicht nur persönlich, es gefährdete auch ganz real ihre dünne, wirtschaftliche Grundlage. Sie spürte wie sich ein Anflug von Panik in ihr breit machte.

"Ich werde diese Note beeinspruchen."

Ihre Worte klangen erstaunlich ruhig, sogar in ihren Ohren. Als sie den Blick wieder hob, sah sie, dass Dr. Lecter sie interessiert musterte. Irgendetwas an der Art wie seine eisblauen Augen aufblitzen, sagte ihr aber, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Ich kann das wirklich gut, dachte sie sarkastisch.

Als er ihr schließlich antwortete, geschah das mit denkbar freundlichster Stimme,

"Was denken Sie sich eigentlich, wen sie hier vor sich haben, Clarice Starling mit dem hübschen Täschchen und den billigen Schuhen? Sagen Sie mir, was denkt sich ein ehrgeiziger Bauerntrampel wie Sie eigentlich, der noch keine zwei Generationen von dem entfernt ist, das man langläufig als weißen Abschaum bezeichnet? Was hat Sie nur auf die Idee gebracht, Ihre Heimat zu verlassen und zu glauben, dass Sie es in Ihrem Leben zu irgendetwas Besserem bringen könnten als Ihre Mummy und Ihr Daddy?"

Clarice war wie versteinert. Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als er abwehrend die Hand hob, wie um ihr Einhalt zu gebieten.

"Sagen Sie mir, wie lange waren Sie eigentlich auf der Suche nach einem Strohhalm, um dem langweiligen und bedeutungslosen Zweitausendseelenkaff, in dem Sie geboren wurden, zu entkommen? Wie viele öde und schmuddelige Fummeleien auf den Rücksitzen mancher Autos mussten Sie dafür über sich ergehen lassen?" Er machte eine kurze Pause, ehe er zum finalen Stoß ansetzte: "Wenn ich mir Ihre Kleidung und Ihr gesamtes Erscheinungsbild so ansehe, dann muss der Strohhalm wahrhaftig sehr dünn gewesen sein."

Clarice hatte das Gefühl, als wäre sie von oben bis unten in Watte verpackt. Die Situation kam ihr auf einmal eigenartig irreal vor. Ganz so, als würde sie neben sich stehen und sich von oben bis unten betrachten, wie sie da so saß, auf Dr. Lecters geschmackvollem Stuhl, in Dr. Lecters geschmackvoll eingerichteter Praxis. Sie kam sich so entsetzlich fehl am Platz vor. Und so unendlich müde. Sie wollte nur noch aufstehen und nach Hause gehen. Weg von diesem Ort, weg von diesem Mann, weg von dieser entsetzlich demütigenden Situation, in die sie sich da selber hineinmanövriert hatte.

Ihr Geist war so sehr mit dem gerade eben vorgefallenen beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie sich die Waage anscheinend wieder etwas zu ihren Gunsten verschob. Hätte sie es über sich gebracht, dem Doktor nach dieser Demütigung in die Augen zu schauen, hätte sie vielleicht bemerkt, wie die Härte ein wenig aus seinen Augen wich und einem gewissen Interesse Platz machte. So aber hielt sie nur den Kopf leicht gesenkt und versuchte, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen.

"Wissen Sie eigentlich, was Ihr wirkliches Problem ist, Miss Starling? Was Sie zu dieser maßlosen Selbstüberschätzung getrieben hat?" fuhr er mit derselben freundlichen Stimme fort.

Mein Gott, er ist immer noch nicht fertig mit mir, dachte Clarice bei sich. Aber ich werde einen Teufel tun und diesem arroganten Bastard darauf eine Antwort geben. Soll er es mir doch sagen...

"Sie haben Angst davor, gewöhnlich zu sein... so gewöhnlich wie die Familie, der Sie entstammen. Und Sie haben Angst davor zu versagen. Ein schmerzhafter Gedanke, nicht wahr?"

Oh ja, er schmerzte. Wie hatte sie auch nur so dumm sein können, sich mit einem so erfahrenen und charismatischen Mann auf eine Konfrontation einzulassen. Maßlose Selbstüberschätzung, in der Tat. Er hatte in ihr gelesen wie aus einem offenen Buch, die Hand genau auf die Quelle ihres Ehrgeizes gelegt und wühlte nun mit seinen Fingern kunstfertig und sehr effizient in dieser Wunde herum.

Er war in der Zwischenzeit aufgestanden und mit wenigen gemessenen Schritten hinter sie getreten. Clarice war zu ausgelaugt und zu gedemütigt, um seinen Bewegungen mit ihren Blicken zu folgen. Sie spürte allerdings seine Anwesenheit in ihrem Rücken, weil er sich plötzlich zu ihr hinunterbeugte und ihr – beinahe väterlich - eine Hand auf ihre Schulter legte. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr,

"Nun, Clarice Starling, glauben Sie mir. Sie sind weder gewöhnlich, noch haben Sie versagt. Allerdings ist Ihr Gefühl für Diplomatie erschreckend unterentwickelt. Wenn Sie daran nicht arbeiten, wird Ihnen dieser Mangel garantiert noch einmal Schwierigkeiten einbringen, denken Sie an meine Worte, Miss Starling."

Er machte eine gewichtige Pause und richtete sich wieder auf,

"Und nun stehen Sie auf und gehen Sie nach Hause. Wie ich schon sagte, tun Sie sich selber einen Gefallen und haken Sie die ganze Angelegenheit ab."

Damit ließ er sie wieder los, ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich auf seinen Sessel.

"Die Schule wartet auf Sie, kleine Starling."

Clarice brauchte eine ganze Weile, um genug Kraft in ihre Beine zu bekommen. Als sie es schließlich geschafft hatte aufzustehen, nahm sie ihren roten Ordner an sich. Als sie die Türe des Sprechzimmers erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.

"Leben sie wohl, Dr. Lecter."

Aber der Doktor hatte bereits einen der vielen Aktenordner auf dem Tisch an sich genommen und schien ihr keinerlei Beachtung mehr zu schenken.

*****

Als Clarice die massive Eichenholztüre zum Sprechzimmer wieder hinter sich geschlossen hatte, lief sie geradewegs Will Graham in die Hände, der soeben durch die nicht verschlossene Türe der Praxis hereingekommen war. Sie starrte den Mann, der da so unvermutet vor ihr aufgetaucht war, mit weit aufgerissen Augen an. Schließlich zeichnete sich ein Erkennen in ihrem Blick ab und so stieß sie aufgeregt hervor,

"Hey, ich kenne Sie! Sie sind doch einer der ermittelnden Sonderbeamten im Fall Chesapeake-Ripper. Ich habe Fotos von Ihnen in etlichen Zeitungen gesehen. Sie arbeiten doch mit Jack Crawford zusammen, nicht wahr?"

Will musterte die junge Frau erstaunt, die sich, ihrem gesamten Erscheinungsbild nach, über irgendetwas fürchterlich aufgeregt zu haben schien. Darüber hinaus wirkte sie regelrecht erschöpft. Angesichts der Situation war es nicht verwunderlich, dass er sie für eine von Dr. Lecters Patientinnen hielt.

Da Will nicht genau wusste, welche genauen Beweggründe sie dazu veranlasst hatten, eine Therapie bei Dr. Lecter zu suchen, beschloss er, sie zu beruhigen, indem er sich höflich auf ein kurzes Gespräch mit ihr einließ.

"Ja, ich bin tatsächlich einer der Sonderermittler im Fall Chesapeake-Ripper. Mein Name ist Will Graham. Kennen Sie Jack Crawford?"

"Ja."

Nach dieser knappen, wenig aussagekräftigen Antwort, hatte Will ehrlich gesagt einige Mühe damit, einen Faden zu finden, um das Gespräch fortzuführen. Er musterte die junge Frau eindringlich und fragte sich, wo die Verbindung zwischen einer von Dr. Lecters Patientinnen und Jack Crawford liegen mochte.

Die Frau vor ihm schien über irgendetwas angestrengt nachzudenken und sich schließlich zu einer Entscheidung durchzuringen. Sie blickte auf einen roten Ordner in ihren Händen, dann auf Will und danach wieder auf den Ordner. Ihre Augen hatten mittlerweile einen eigenartigen Glanz angenommen.

"Wissen Sie was, Mr. Graham. Ich denke, vielleicht können Sie ja damit etwas anfangen. Für mich hat es seine Brauchbarkeit verloren. Ich kann es nicht ertragen, diese Sache überhaupt noch bei mir zu behalten. Vielleicht haben Sie ja Glück damit."

Mit diesen Worten hielt sie ihm den Ordner hin.

Will Graham war mehr als nur ein wenig erstaunt. Diese ganze Situation war wirklich höchst eigenartig. Aber er wollte die offensichtliche Erregung dieser Person nicht noch mehr steigern und tat deshalb so, als würde er ihr Geschenk annehmen. Er bedankte sich, öffnete vor ihr seine Aktentasche und legte den roten Ordner hinein. Als er die Tasche wieder geschlossen hatte, lächelte er ihr freundlich und beruhigend zu. Sie lächelte zurück. Danach drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ wortlos die Praxis.

Will schüttelte amüsiert seinen Kopf. Unmittelbar darauf wanderten seine Gedanken allerdings wieder zu den dringlicheren Dingen, die ihn eigentlich hierher geführt hatten. Als er an die Türe zu Dr. Lecters Sprechzimmer klopfte, hatte er den roten Ordner in seiner Aktentasche bereits wieder vergessen. Und da Will Graham seine Aktentasche nur sehr selten benutzte, sollte sich in der nächsten Zukunft daran auch nichts ändern.

*****

Das Gespräch mit Will Graham hatte nicht lange gedauert. Wie versprochen hatte er Bericht über den derzeitigen Stand der Ermittlungen erstattet. Danach hatten sie noch ein kurzes Gespräch hinsichtlich einiger Überlegungen Dr. Lecters bezüglich der Wiederholungsgeschwindigkeit des Rippers geführt. Dabei hatte Dr. Lecter seinen Befürchtungen Ausdruck verliehen, dass der Ripper schon sehr bald wieder zuschlagen könnte. Unter Umständen schneller als erwartet.

Will Graham war, wie beim ersten Mal schon, für diese Einschätzung und Hilfestellung äußerst dankbar gewesen. Man hatte noch ein Glas Weinbrand miteinander getrunken und sich dann in aller Freundschaft voneinander verabschiedet.

Nun saß Dr. Lecter entspannt in seinem luxuriösen, weichen Ledersessel und hatte die Augen geschlossen. Vor sich auf dem Schreibtisch lag – aufgeschlagen - eines seiner wirklich wertvollen medizinischen Lehrbücher. Auf den offenen Seiten war eine Figur abgebildet, die alle nur denkbaren, durch schneidende und stechende Waffen hervorgerufenen, Kriegsverletzungen zeigte. Dr. Lecter dachte nach.

Er hatte die Aufmerksamkeit bewusst auf den Zeitraum zwischen den Morden gelenkt, da das FBI - wie er dank Jack Crawford und Will Graham nur zu genau wusste - bereits einige Vermutungen in dieser Richtung angestellt hatte. Falsche Vermutungen natürlich, denn anders als ein klassischer Serienmörder verspürte er keinerlei zwanghaften Drang zu töten. Er machte es, wann immer er Lust und Gelegenheit dazu hatte. Diese Tatsache unterschied ihn von den gewöhnlichen Serienmördern. Bei genauerer Betrachtung unterschied ihn überhaupt gewaltig viel von einem gewöhnlichen Serienmörder.

Dass er die letzten beiden Opfer tatsächlich in kürzeren Abständen getötet hatte, war nicht beabsichtigt gewesen, sondern vielmehr ein Produkt des Zufalls. Wer konnte denn auch mit dem Besuch dieses höchst einfältigen und aufdringlichen Volkszählers rechnen.

Nein.

Der Chesapeake-Ripper war der lebende Beweis dafür, dass die Erkenntnisse des FBI bezüglich der Erstellung von Täterprofilen noch lange nicht der Weisheit letzter Schluss waren. Aber das wussten die ermittelnden Beamten nicht. Noch nicht. Und er würde ihnen auch keine Gelegenheit mehr dazu geben, es herauszufinden.

Will Graham war ein hochwillkommenes Geschenk, denn durch ihn hatte er Einblick und Einfluss in das laufende Ermittlungsverfahren. Hannibal Lecter würde dabei mithelfen, das Profil des Chesapeake-Rippers Schritt für Schritt zu modifizieren und zwar in eine ihm genehme Richtung. Er würde natürlich so nahe wie möglich bei der Wahrheit bleiben und die Wirklichkeit nur in einigen wenigen, aber entscheidenden Details abändern.

Dabei half ihm die Tatsache, dass er keinerlei zwanghafte Verhaltensweisen bei der Ausübung seiner Taten befriedigen musste. Er würde von nun an einfach ein paar Dinge hinzufügen oder weglassen, um die Ermittlungsarbeit des FBI dadurch in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.

Hannibal Lecter hatte im übrigen nicht gelogen als er Will gegenüber angedeutet hatte, dass der Chesapeake-Ripper sehr bald wieder zuschlagen würde. Tatsachlich hatte er sich sein nächstes Opfer bereits ausgesucht.

Obwohl es bereits fünf Jahre her war, dass er die Bekanntschaft dieses nichtswürdigen Subjekts gemacht hatte, hatte er niemals das ungehobelte und unwürdige Betragen dieses Mannes vergessen, als dieser völlig betrunken wegen eines Jagdunfalls in die Notaufnahme des Maryland Misericordia eingeliefert worden war.

Hannibal Lecter blieb niemandem etwas schuldig und nun war die Zeit dafür gekommen, eine Rechnung zu präsentieren. Seine Mühlen mahlten zwar langsam, aber sie mahlten stetig und mit einem, wie er fand, zufriedenstellend endgültigen Ergebnis. Hannibal Lecter war aber auch sehr darauf bedacht, dem unangemessenen Verhalten seiner Opfer eine ausgleichende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Wie im Leben so im Sterben, dachte er amüsiert bei sich. Das sechste Opfer des Chesapeake-Ripper war ein leidenschaftlicher Jäger... gewesen. Er öffnete seine Augen und betrachtete intensiv die Abbildung des Wundenmannes. Als er sie memoriert hatte, stand er auf und räumte das Buch wieder an seinen Platz in dem Bücherregal hinter seinem Schreibtisch zurück.

Er benötigte es nicht, um seine Übungen durchzuführen. Alle erforderlichen Informationen befanden sich nun in seinem weitläufigen Gedankenpalast und konnten von dort jederzeit aufgerufen werden.

Dr. Lecter war sehr neugierig darauf, ob er es schaffen konnte, den Mann am Leben zu erhalten, bis er tatsächlich einem perfekten Abbild des Wundenmannes entsprach.

Ah, dachte er mit einem beinahe philosophischen Anflug bei sich, aus solchen Begegnungen waren immer neue und wertvolle Einsichten zu gewinnen.

*****

Später, sehr viel später, schloss sich hinter Dr. Lecter die Türe zu seinem Privathaus in einem der nobelsten Vororte von Baltimore. Er war rechtschaffen müde. Aber, wie er nüchtern feststellte, die gerade zurückliegenden Ereignisse waren in der Tat sehr aufschlussreich gewesen.

Er machte ein Feuer im Kamin seines Wohnzimmers und wartete, bis es sich soweit entwickelt hatte, dass er die Kleidung, die sich in einem von ihm mitgeführten Plastiksack befand, hineinwerfen konnte. Er hatte sich bereits in der Werkstatt seines Opfers umgezogen, da seine eigene Kleidung vor Blut geradezu gestrotzt hatte. Mittlerweile war die Kleidung aber wieder getrocknet und er übergab sie sorgfältig, Stück für Stück, den Flammen.

Danach ging er mit dem Plastiksack nach oben in sein Bad, stellt sich in die Dusche und zog auch noch die Kleidung aus, die er gewechselt hatte. Er stopfte sie, wie die blutige Kleidung zuvor, in den Plastiksack, den er in der Badewanne deponierte. Anschließend wusch er sich ausgiebig bis er sich sicher war, dass auch wirklich alle Spuren beseitigt waren, ehe er die Dusche wieder verließ. In seinen bequemen Bademantel gehüllt, den Plastiksack weit von sich haltend, ging er wieder nach unten in sein Wohnzimmer. Dort verbrannte er auch diese Kleidung sorgfältig. Zum Abschluss warf er noch den Plastiksack in die Flammen. Er war der letzte Überrest einer denkwürdigen Nacht.

Zur Sicherheit wusch er die Badewanne noch einmal sorgfältig aus und schrubbte sich danach ausgiebig die Hände. Währenddessen ging er geistig noch einmal alle Beseitigungsaktionen durch, die er nach seinem kleinen Tete-a-tete durchgeführt hatte, nur um sicher zu gehen, dass er auch nichts übersehen hatte.

Ehe Hannibal Lecter zu Bett ging, nahm er noch einen kleinen Imbiss zu sich, den er in weiser Voraussicht bereits am Morgen zubereitet und in seinem Kühlschrank verstaut hatte. Anschließend begab er sich in sein Schlafzimmer und legte sich ins Bett.

Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Bevor er sich seinem wohlverdienten Schlaf hingeben konnte, musste er noch eine Angelegenheit analysieren und ins Reine bringen, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Sie betraf die junge Frau, die ihn heute Nachmittag aufgesucht hatte.

Clarice Starling war ihm bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen, auch wenn sie davon keine Ahnung hatte. Nein, nicht im Hörsaal, sondern bereits vorher, als er das Gespräch mit Jack Crawford geführt hatte. Sie hatte ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde angesehen, aber er hatte ihre Neugier trotzdem gespürt.

Später im Hörsaal hatte sie wie alle anderen auch an seinen Lippen gehangen. Er hatte sie immer wieder einmal dabei beobachtet und sich sogar einige Male dabei ertappt, wie seine Gedanken während seines Vortrages zu ihr abgeschweift waren. Das war auch weiter keine Schwierigkeit für ihn gewesen, denn er konnte gleichzeitig auf verschiedenen geistigen Ebenen tätig sein.

Als sie ihn dann so unvermutet angegriffen hatte, war er tatsächlich überrascht und sogar ein wenig verärgert gewesen. Gleichzeit war er nicht umhin gekommen, die Courage zu bewundern, mit der sie ihre Frechheiten vorgetragen hatte. Er wusste genau um die einschüchternde Wirkung, die er auf Menschen haben konnte.

Diese junge Dame hatte aber trotzdem nicht nachgegeben. Nicht wirklich. Sie hatte sich lediglich der Situation unterworfen, in der sie sich befunden hatte. Hätte diese Auseinandersetzung an einem anderen Ort stattgefunden, ohne demütigende Zeugenschaft, vor allem aber ohne den Druck einer positiven Beurteilung, wäre sie zweifellos und ohne Rücksicht auf Verluste auf Konfrontationskurs gegangen.

Die Arbeit, die sie ihm abgegeben hatte, war – milde ausgedrückt - ungewöhnlich. Obgleich er sofort gewusst hatte, dass die entscheidenden Schlussfolgerungen nicht auf Fakten und psychologischen Analysen basieren konnten, war er über die schlichte Brillanz ihrer Theorie erstaunt gewesen. Clarice Starling hatte damit die komplette Riege so genannter Fachleute aus dem Feld geschlagen. Die weibliche Intuition war eben ein Gebiet, das sogar einen Hannibal Lecter bisweilen zum Staunen brachte.

Natürlich war es erforderlich, diese unvermutete Mitwisserin zu beseitigen. Aus irgendeinem Grund hatte er sich in seinem Sprechzimmer dann aber doch dagegen entschieden. Vorläufig. Eine weise Entscheidung, wie sich gleich darauf herausgestellt hatte, als Will Graham unangemeldet durch seine Tür spaziert war.

Hannibal Lecter atmete tief durch und stellte sich die Frage, was er an diesem Mädchen eigentlich so faszinierend fand. Es hatte schönere Frauen in seinem Leben gegeben. Stilvollere. Gebildetere. Und er konnte auch jetzt beinahe jede Frau haben, die er wollte.

Er musste sich eingestehen, dass Clarice Starling eine Seite an ihm ansprach, zu der normalerweise niemand Zugang hatte. Und allein diese Tatsache hatte ihr heute das Leben gerettet. Darüber hinaus konnte sie mit zwei Qualitäten punkten, die in Hannibal Lecters Wertesystem eine große Rolle spielten: sie war ehrlich und sie war unterhaltsam.

Sehr unterhaltsam sogar.

Er war sich sicher, dass er Clarice Starling haben konnte, wenn er es darauf anlegte. Sicher, sie war viel jünger als er und er hatte an ihr bis jetzt noch keine Hinweise dafür entdeckt, die darauf hinwiesen, dass sie ihn als Mann wahrgenommen hatte.

Vielleicht sollte ich das Ganze ein bisschen forcieren, dachte er bei sich.

Mit diesem Gedanken schlief Hannibal Lecter ein.

*****

Am Morgen des 13. März 1975, exakt um 7 Uhr 23 Minuten, zeichnete das mitlaufende Tonband des polizeilichen Notrufs der Baltimore PD den Anruf einer vollkommen hysterischen Frau auf. Man konnte sie nur mit Mühe soweit beruhigen, dass man ihren Namen und ihre Adresse herausbekommen konnte. Bevor allerdings nähere Angaben über den Grund ihres Anrufs aus ihr herauszubekommen waren, hatte sie bereits wieder aufgelegt.

Der zuständige Sicherheitswachebeamte nahm die Sache durchaus ernst und schickte sofort ein Team los, um bei der angegebenen Adresse nach dem Rechten zu sehen. Die beiden Polizeibeamten, die kurz danach vor Ort eintrafen, waren eigentlich auf ein Szenario häuslicher Gewalt eingerichtet, aber als sie aus ihrem Wagen stiegen, war das Bild, das sie erwartete, erstaunlich friedlich.

Während sie langsam auf das Haus zugingen, bemerkte der eine von beiden neben dem rechten Verandaaufgang eine in sich zusammengekauerte Frau. Die weibliche Person war nicht richtig ansprechbar. Sie signalisierte den Beamten allerdings durch immer wiederkehrende Handbewegungen, dass sich der Grund ihrer Erregung offenbar in der Werkstatt gerade vor ihnen befand.

Die beiden Polizeibeamten nickten sich stillschweigend zu. Langsam gingen sie in Richtung der weit geöffneten Türe, während beide routinemäßig ihre Waffe zur Hand nahmen. Als beide vor der Werkstatttüre angekommen waren, begann die Frau im Hintergrund laut zu schluchzen.

Vor der Türe sicherten sie sich gegenseitig, ehe der eine von beiden schnell in der Türe verschwand. Die Werkstatt hatte keine Fenster und so drang nur das Licht der Eingangstüre in den Raum. Aber der metallische Geruch, der den Officer erwartete, sagte einem so altgedienten Beamten wie ihm ohnehin alles, was er wissen musste.

Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, schossen dem Mann zeitgleich zwei Gedanken durch den Kopf. Der erste war, dass er hier mit seiner Waffe nichts mehr ausrichten konnte. Der zweite, dass er es nicht mehr rechtzeitig bis nach draußen schaffen würde.

Der Officer erbrach sich an Ort und Stelle auf den Boden.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 6: Im Spiegel

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Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
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Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)