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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)

Kapitel 6: Im Spiegel

"Hey, Clarice! Dein Typ wird verlangt."

"Von wem?"

"Was weiß ich vom wem, du hast einen Telefonanruf."

"Danke, Marcy."

Clarice beeilte sich, ihr kleines Zimmer im Studentenwohnheim zu verlassen und lief den Flur entlang zu dem dort befindlichen öffentlichen Fernsprecher. Atemlos sprach sie in den Hörer,

"Starling."

"Sind Sie das, Clarice? Hallo, Clarice. Ich darf Sie doch so nennen, nicht wahr?"

Clarice erkannte die Stimme sofort wider. Sie war allerdings so überrascht, dass sie einig Sekunden lang brauchte, um ihre Fassung wiederzufinden. Schließlich brachte sie immerhin so etwas wie ein Flüstern zustande.

"Dr. Lecter."

"Genau der. Sie sind ein wenig überrascht, von mir zu hören, nicht wahr?"

"Allerdings. Kann ich...ich meine... was ist der Grund für Ihren Anruf?"

"Nun, ich dachte mir, dass Sie mich vielleicht noch einmal wegen Ihrer Arbeit aufsuchen sollten. Ich habe mir diesbezüglich noch einige Gedanken gemacht, die ich gerne mit Ihnen besprechen würde."

Clarice hatte mittlerweile sowohl ihren Atem, als auch ihre Fassung wiedergefunden.

"Wozu? Ehrlich gesagt würde ich diese Angelegenheit gerne abhaken." Dann fügt sie noch sarkastisch hinzu: "Diese Arbeit hat mein Leben zerstört."

"Seien Sie bitte nicht so melodramatisch, Clarice. Nun, wenn Sie nicht wollen, dann müssen Sie natürlich nicht kommen. Ich möchte aber noch einmal hinzufügen, dass es sich bei diesem Anruf um eine einmalige Sache handelt. Wenn Sie auflegen, ist mein Angebot hinfällig."

"Dann werden Sie mir meine Note verbessern?" fragte sie ungläubig und hoffnungsvoll zugleich.

Er lachte kurz und trocken.

"Natürlich nicht. Wieso auch? Aber Ihr mutiger Einsatz für sich selbst sollte nicht unbelohnt bleiben, Miss Starling. Ich möchte Ihnen etwas anderes anbieten. Haben Sie heute Abend schon anderweitige Verpflichtungen?"

"Nein."

Sie hatte eigentlich nicht so schnell antworten wollen, aber das Wort war ihr einfach entschlüpft.

"Gut. Dann springen Sie in Ihr Auto und schauen heute Abend noch bei mir vorbei. Ach, und Clarice..."

"Ja?"

"Ziehen Sie sich bitte etwas Hübsches an. Nichts Ausgefallenes, nur ein klein wenig feiner als das letzte Mal."

Diese Aussage hinterließ Clarice etwas sprachlos. Sie wusste nicht so recht, worauf er hinauswollte, also beschloss sie Nägel mit Köpfen zu machen.

"Nun, Dr. Lecter. Baltimore ist zweifellos eine sehr interessante Stadt, wenn man den richtigen Führer hat, aber..."

Er unterbrach sie freundlich aber bestimmt,

"Oh, ich hatte nicht an einen gesellschaftlichen Abend gedacht, Miss Starling. Ich wollte Sie vielmehr zu mir nach Hause zu einem kleinen Dinner einladen. Ich bin nämlich ein nicht ganz unbegabter Koch. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ist meine Küche sogar weithin gerühmt. Also, was sagen Sie, riskieren Sie eine neuerliche Konfrontation mit mir? Sie dürfen mich nach dem Essen auch mit Ihren Argumenten verführen."

Clarice zögerte mit ihrer Antwort, gab sich aber schließlich einen Ruck. Was hatte sie denn auch schon großartig zu verlieren?

"Gut, Dr. Lecter. Ich lasse mich darauf ein, aber ich hoffe wirklich, dass Sie dieses Angebot ehrlich meinen."

"Ich bin immer ehrlich, Clarice. Haben Sie etwas zum Schreiben da?"

"Ja."

"Gut, also meine Privatadresse ist..."

Clarice schrieb die Adresse schnell auf den Wandblock, der neben dem Fernsprechapparat hing.

Als sie sich von Dr. Lecter verabschiedet und wieder aufgelegt hatte, ging sie langsam zu ihrem Zimmer zurück. Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen und dachte nach.

Das Angebot des Doktors kam unerwartet und brachte sie in eine wirkliche Zwickmühle. Sie hatte vielleicht die Chance, das Blatt noch einmal zu ihren Gunsten zu wenden. Aber um welchen Preis?

Ihr war nicht ganz klar, was genau seinen Sinneswandel bewirkt hatte. Sie hatte bisher eigentlich nicht das Gefühl gehabt, dass er sie in irgendeiner Form attraktiv oder anziehend fand. Trotzdem war eine gewisse emotionale Komponente in seinem Angebot enthalten, dessen war sie sich ziemlich sicher.

Sie war in Liebesdingen nicht unbedingt erfahren, aber sie war auch nicht völlig unbedarft. Die unterschwellige Betonung, die er manchen Worten gegeben hatte, ließen sie ahnen, dass der gute Doktor sich vielleicht durch ein wenig mehr verführen lassen wollte, als nur durch ihre Argumente.

Der Gedanke daran schreckte sie doch ein wenig ab. Andererseits konnte sie sich die angebotene Gelegenheit nicht entgehen lassen. Zuviel hing von dieser Note für sie ab.

Sie stand auf und öffnete ihren Kleiderschrank, um die wenigen Kleidungsstücke, die sie besaß, zu durchforsten. Schließlich schüttelte sie entnervt den Kopf. So wurde das nichts. Vielleicht sollte sie ihre Zimmernachbarin Marcy fragen, ob die ihr etwas borgen konnte.

*****

"Ist das Licht so angenehm für Sie oder soll ich den Dimmer noch ein wenig heller stellen?"

"Nein, danke. Alles ist wunderbar."

Das war es tatsächlich. Noch nie hatte Clarice Starling ein so stilvoll eingerichtetes Privathaus betreten. Dr. Lecters Wohnhaus war voller holzgetäfelter Wände, schwerer Kassettendecken, teurer Teppiche und einem ausgesprochen geschmackvollen und eleganten Interieur.

Nicht, dass Clarice diesbezüglich große Erfahrungen aufzuweisen gehabt hätte. Das Haus ihrer Eltern war wenig mehr als eine schiefe Hütte, durch deren Dach der Wind gepfiffen hatte, und die Heimat ihrer Jugend, das Weisenhaus der Lutheraner, war ebenfalls ausgesprochen karg und nüchtern gewesen.

Es war aber gar nicht so sehr der so selbstverständlich zur Schau gestellte Wohlstand, der Clarice wirklich beeindruckte, sondern vielmehr der Platz, den Dr. Lecter für sich alleine in diesem riesigen Haus beanspruchen konnte.

Raum und ein privates Refugium. Beides ein absoluter und rarer Luxus für Clarice Starling, die diese Dinge den weitaus größten Teil ihres jungen Lebens zuerst mit ihren Geschwistern, dann mit den anderen Weisenkindern und letztlich mit ihren Studienkolleginnen teilen musste.

Wie stolz war sie gewesen, als ihr als älteres Studiensemester im Studentenwohnheim endlich einmal ein eigenes Zimmer zugestanden worden war. Clarice konnte sich noch genau daran erinnern, wie es gewesen war, als sie ihr 8m² großes Zimmerchen bezogen hatte. Sie hatte sich einfach auf den Boden gesetzt, minutenlang nur dort gesessen und die Stille genossen. Ihre eigene, ganz private Stille.

Nun, im direkten Vergleich musste sie sich eingestehen, dass allein Hannibal Lecters Eingangshalle den Raum, der ihr alleine zur Verfügung stand, gleich mehrfach übertraf. Und ihr geliebtes Zimmer gehörte noch nicht einmal ihr.

Dr. Lecter hatte sie anschließend in sein opulent ausgestattetes Esszimmer geführt und ihr einen Platz direkt neben sich am Kopfende des Tisches angeboten. Nein, an seiner Tafel, verbesserte sie sich in Gedanken. Die Bezeichnung "Tisch" wäre eine viel zu gewöhnliche Beschreibung für diesen Einrichtungsgegenstand gewesen.

Er hatte sich bei ihr entschuldigt, dass er ihr nicht den Platz genau ihm gegenüber zugewiesen hatte, der Platz, der traditionell den besonders wertgeschätzten Gästen vorbehalten war. Aber er hatte diese "Unterlassung" mit der Tatsache begründet, dass er sie aus serviertechnischen Gründen und aus Gründen der Konversation lieber direkt neben sich haben wollte. Auf seine höflich vorgetragene Bitte, ob sie auch damit einverstanden sei, hatte sie einfach nur genickt. Daraufhin hatte er ihr den Sessel angeboten und sie setzte sich.

Er schenkte ihr Wasser ein, und verschwand dann, natürlich nach einer entsprechenden Entschuldigung, in die Küche, um den ersten Gang zu servieren. Die Zeit seiner Abwesenheit verbrachte Clarice damit ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Die Unmenge an silbernem Besteck, die er links, rechts und oberhalb ihres Gedeckes aufgelegt hatte, weckten zwar ein dumpfes Gefühl der Panik in ihr, aber sie beschloss, dieses Gefühl zu ignorieren und einfach Dr. Lecters Gesten nachzuahmen.

Das Essen, das er ihr im Anschluss daran servierte, war als absolutes Ereignis in ihrem jungen Leben einzustufen. Besonders, da sie einige Dinge, die Dr. Lecter ihr da aufgetischt hatte, bisher nur vom Hörensagen gekannt hatte. Wie auch immer, es war phantastisch gewesen. Er hatte nicht gelogen, Hannibal Lecter war ein fabelhafter Koch.

Nun hatte sie in Dr. Lecters Wohnzimmer Platz genommen und harrte der Dinge, die an diesem Abend noch auf sie zukommen würden.

"Möchten Sie noch ein Glas Wein trinken?"

"Ja, bitte."

Hannibal Lecter öffnete einen große Glasvitrine, in der er offenbar sein Glas und seine Karaffen aufbewahrte, und entnahm ihr zwei wunderschön geformte Bordeauxgläser. Clarice hatte im Prinzip keine große Ahnung von Trinkkultur und Weingläsern, aber sogar sie erkannte die großen bauchigen kelchförmigen Gläser.

Er stellte die Gläser auf den Wohnzimmertisch. Danach nahm er noch einen großen Aschenbecher aus der Vitrine, ehe er sie wieder verschloss.

"Rauchen Sie, Clarice?"

"Nein, Dr. Lecter, und Sie?"

"Gelegentlich. Wenn es Sie stört, dann sagen Sie es ruhig. Ich bin dem Nikotin nicht verfallen."

"Nun, es wäre mir tatsächlich lieber, wenn Sie es lassen würden."

"Gut. Ich muss schnell in den Keller gehen und eine Flasche Wein holen. Kommen Sie solange alleine zurecht?"

"Sicher. Ich bin ein großes Mädchen."

Ihre Replik ließ ihn schmunzeln. Dann drehte er sich um und verließ das Wohnzimmer. Sie konnte hören wie er die Eingangshalle überquerte und irgendwo auf der anderen Seite eine Türe öffnete.

Die Situation war ein wenig eigenartig. Clarice hatte keine Ahnung, in welche Richtung sich dieser Abend noch entwickeln würde. Und aus ihrem Gastgeber konnte sie nicht das mindeste herauslesen. Sie blickte auf die wunderschöne antike Standuhr, die in seinem Wohnzimmer stand. Nun ja. Ein wenig Zeit hatte sie ja noch es herauszufinden, ehe sie sich wieder auf den Weg nach Hause machen musste.

Als Hannibal Lecter den Raum wieder betrat, führte er eine bereits geöffnete Flasche Rotwein mit sich. Er trat an Clarices Seite und füllte ihr Glas. Sie wollte es gerade an sich nehmen, als er durch eine rasche, elegante Bewegung seiner Hand ihr Glas festhielt und sie dadurch veranlasste, es wieder hinzustellen. Sie sah ihm erschrocken in die Augen, aber er war keineswegs verärgert. Eher amüsiert. Dann schüttelte er leicht den Kopf und bedeutete ihr zu warten.

Dr. Lecter ging um den Wohnzimmertisch herum und schenkte sich ebenfalls etwas Wein ein. Schließlich machte er es sich in dem großen, ledernen Couchsessel bequem, der zu der opulenten Sitzgarnitur gehörte, die sein Wohnzimmer zierte.

Dr. Lecter nahm das Bordeauxglas, hob den Wein fachmännisch gegen das Licht, schwenkte das Glas unter seiner Nase und probierte schließlich einen Schluck. Clarice sah fasziniert zu, wie er den Schluck Wein mit geschlossenen Augen eine ganze Zeit lang in seinem Mund herumwandern ließ, ehe er ihn hinunterschluckte.

Dann erst öffnete er wieder seine Augen.

"Der Wein ist exzellent, meine Liebe. Jetzt dürfen Sie kosten."

Clarice gehorchte und hob das Weinglas an ihre Lippen. Der Wein war herrlich. Mithin der Beste, den sie jemals getrunken hatte. Von dem Tischwein, den Dr. Lecter ihr vorhin serviert hatte, einmal abgesehen.

"Er schmeckt wunderbar. Wirklich."

"Ich weiß."

"Was habe ich eben falsch gemacht?"

"Oh, Sie haben gar nichts falsch gemacht, Clarice. Sie haben nur etwas nicht gewusst. Ich wäre ein schlechter Gastgeber, wenn ich meinem Gast einen Wein vorsetzen würde, von dessen Wohlgeschmack ich mich nicht persönlich überzeugt hätte. Außerdem sagt die Qualität des Weines immer auch etwas über die Wertschätzung aus, die man einem Gast entgegenbringt. Ich wollte sichergehen, dass dieser hier Ihnen auch wirklich angemessen ist."

Clarice war es nicht gewöhnt, auf so charmante Weise komplimentiert zu werden. Wenn sie genau darüber nachdachte, dann hatte sie überhaupt noch nicht besonders viele Komplimente bekommen. Sie fühlte sich dadurch beinahe ein wenig unwohl, weil sie nicht genau wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Daher beschloss sie das Thema zu wechseln.

"Dr. Lecter, Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie mit mir noch einmal über meine Arbeit sprechen möchten. Sie haben aber auch gesagt, dass Sie meine Note nicht ändern würden. Darf ich Sie fragen, warum Sie mich dann trotzdem hierher gebeten haben? Wenn ich ehrlich sein darf, halte ich Sie nämlich eigentlich nicht für den Typ Professor, der seinen Studentinnen im Austausch gegen eine schnelle Nummer eine bessere Note gibt."

Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln und diesmal erreichte es auch seine Augen. Sie funkelten geradezu vor Heiterkeit. In diesem Moment fand Clarice ihn unwiderstehlich. Leider verschwand dieser Eindruck aber sehr schnell wieder hinter seiner üblichen beherrschten Fassade.

"Ja, ehrlich sind Sie wirklich, Clarice. Darf ich Ihnen eine Gegenfrage stellen? Wenn Sie genau gewusst haben, dass Sie mit Sex bei mir nichts erreichen können und ich in keinem Fall Ihre Note ausbessern würde, warum sind Sie dann hierher gekommen?"

Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen. Beinahe betreten blickte sie in ihr Weinglas. Aber er wollte offensichtlich nicht auf seine Antwort verzichten und verharrte schweigend.

Als die anschließende Stille unerträglich wurde, hob sie ihren Blick wieder und flüsterte,

"Ich hatte gehofft..."

Er unterbrach sie beinahe unwirsch.

"Nein, Clarice."

Ihr erschrockener Blick musste wohl Bände gesprochen haben, denn er setzte mit wesentlich milderem Tonfall fort,

"Hoffnung ist die Selbsttäuschung der Schwachen, meine Liebe. Sie wären nicht hier, wenn ich Sie zu dieser Kategorie Mensch zählen würde, glauben Sie mir."

Er beugte sich nach vorne und blickte sie intensiv an.

"Nichtsdestotrotz möchte ich noch zwei Dinge zu Ihrer Bemerkung von vorhin anfügen. Auch wenn ich Sie damit enttäusche, aber ich werde Ihre Note selbstverständlich nicht ändern."

Ihr Herz sank, aber seine Stimme hatte wieder eine amüsierte Färbung angenommen.

"Zum einen, weil ich damit einen Irrtum zugeben müsste. Das geht nicht. Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie mich noch nicht lange kennen und es ist Ihnen vielleicht noch nicht aufgefallen... aber ich habe immer Recht."

Sie blickte ihn erstaunt an. Er war also trotz all seiner offen zur Schau gestellten Arroganz dazu imstande, sich selber mit mildem Spott zu betrachten.

"Zum anderen könnte man das, was mir im Zusammenhang mit Ihnen vorschwebt, in keinem Fall als schnelle Nummer bezeichnen."

Clarice fühlte eine Welle der Hitze in sich aufsteigen. Da war es also. Die nackte Wahrheit und das buchstäblich. Er hatte sich zurückgesetzt, hielt die Arme vor sich verschränkt und wartete eine Weile ab. Als von ihrer Seite keine weitere Reaktion kam, fuhr er fort,

"Ich versuche nur eine schiefe Optik zu vermeiden, Clarice, denn wie Sie vorhin so richtig bemerkt haben, gehöre ich nicht zu den Professoren, die von Ihren Studentinnen sexuelle Gefälligkeiten im Austausch für eine bessere Bewertung annehmen. Ich schätze Sie im Gegenzug aber auch nicht als eine Frau ein, die sich für einen derartigen Austausch von Gefälligkeiten hergeben würde."

Clarice war nahezu sprachlos. Ihr Mund war trocken und ihre Gedanken rasten. Wieso hatte sie in Gegenwart dieses Mannes eigentlich immer das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füssen weggezogen wurde? Schließlich brachte sie doch noch ein Wort heraus,

"Warum?"

Er lachte. Dann stand er auf und hielt ihr schlicht seine Hand hin. Sie legte ihre Hand hinein und er half ihr aufzustehen. Ohne weitere Worte führte er sie in die Eingangshalle zu einem überlebensgroßen Spiegel aus schwerem Bleiglas. Er stellte sich direkt hinter sie und drehte sie so, dass sie sich in voller Körpergröße betrachten konnte. Schließlich legte er ihr die rechte Hand an die Hüfte, die andere schob er ihr von hinten zart unter das Kinn und hob ihren Kopf leicht an.

Der ungewohnte und unerwartete körperliche Kontakt machte Clarice nicht wenig zu schaffen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, Abstand zwischen sich und ihren Gastgeber zu bringen, wollte aber auch nicht unhöflich sein und seine Hände einfach abschütteln.

Also versteifte sie nur den Rücken, hatte aber große Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was er ihr im Spiegel offenbar zeigen wollte. Ihre Körpersprache entging im keineswegs, aber er schien nicht geneigt, sie allzu schnell aus dieser Situation zu entlassen.

"Sie fragen warum, Clarice? Darum. Sagen Sie mir bitte, wann haben Sie sich das letzte Mal im Spiegel betrachtet? Blicken Sie ruhig hinein und Ihr Zwilling hinter dem Glas wird Ihnen verraten, welche Ansprüche Sie stellen dürfen. Er wird Ihnen verraten, was Ihnen gerecht wird."

Dr. Lecter blickte ihr durch den Spiegel hindurch in die Augen.

"Wenn man hinter den Filter Ihrer unpassenden Kleidung und Ihrer billigen Schuhe blickt und Sie auf das reduziert, was Sie sind, einfach nur Clarice, dann muss ich ehrlich gestehen: Sie sind wirklich schön, meine Liebe."

Bei diesen Worten nahm er seine Hand von ihrem Kinn und streichelte mit dem Zeigefinger zart an ihrer Wange auf und ab. Schließlich strich er mit seiner freien Hand an ihrem Oberarm herunter, schob seine Hand leicht unter die ihre und begann damit, ihre Fingerknöchel mit seinem Daumen zu streicheln. Die ganze Zeit über ließ er sie nicht aus den Augen und auch Clarice starrte wie gebannt in den Spiegel. Sie konnte nichts anderes tun als seinen Blick zu erwidern.

Schließlich hob er langsam ihre Hand an seinen Mund und sprach mit der für sie denkbar verführerischsten Stimme weiter auf sie ein.

"Schön und intelligent genug, um auch ein längerfristigeres Engagement meinerseits in Erwägung zu ziehen, zweifeln Sie nicht daran. Nein, um Ihre eigenen Worte zu verwenden, eine schnelle Nummer wird Ihnen, meine liebe Clarice, wahrhaftig nicht gerecht. Wollen wir uns beide nicht viel lieber an amüsanten Andeutungen, köstlichen Zwischenspielen und aufreizenden Liebkosungen erfreuen? Ah, lassen Sie uns das ganze Alphabet der Liebe von Anfang bis Ende auskosten..."

Er hatte seinen Blick mittlerweile von ihr abgewendet und widmete sich wie es schien nunmehr ausschließlich ihrer Hand. Sie konnte spüren wie er – noch während er sprach - dazu überging, ihren Handrücken mit seinen Lippen zart zu liebkosen. Ein ungewolltes Zittern durchlief ihren Körper bei dieser unglaublich intimen Geste. Erstaunlicherweise hatte sie absolut nicht das Bedürfnis, ihm ihre Hand zu entziehen. Und auch ihr Rücken war nicht mehr annähernd so straff durchgedrückt wie gerade eben noch.

Schließlich hob er seinen Kopf an ihr Ohr und flüsterte,

"Überlegen Sie sich ihre Antwort gut. Eine Frau kann bei der Wahl ihres ersten Mannes wirklich nicht vorsichtig genug sein."

Die simple Tatsache, die seine Worte implizierten, schockierte Clarice nicht wenig. Woher zum Teufel wusste er es nur? War ihre Unerfahrenheit in sexuellen Dingen denn derart offensichtlich? Nein, dachte sie bei sich, dann wüssten es andere Männer ja auch sofort, was bisher aber noch nie der Fall war. Akzeptiere einfach die Tatsache, dass dieser Mann tatsächlich wie in einem offenen Buch in dir lesen kann...

Seine Stimme hatte mittlerweile eine beinahe hypnotische Intensität angenommen. Sie konnte sich nicht mehr auf ihre eigenen Gedanken konzentrieren als er fortfuhr,

"Ich möchte nicht, dass Sie sich in irgendeiner Weise von mir bedrängt fühlen, Clarice, aber wenn Sie mit meinem Angebot einverstanden sind, dann schlage ich vor, dass wir den heutigen Abend an dieser Stelle beenden. Wir sind in unserem intimen Alphabet bereits sehr weit fortgeschritten, meinen Sie nicht auch?"

Er blickte ihr wieder in die Augen. Sie konnte nur zustimmend nicken. Er lächelte erfreut.

"Wunderbar. Nun, wir haben da einige sehr interessante Buchstaben übersprungen, wollen wir sie nicht nachholen?"

Sie nickte erneut.

"Sehr gut. Dann würde ich vorschlagen, dass wir das im Rahmen einer diesmal gesellschaftlichen Einladung nachholen. Sagen Sie, würden Sie mich am Donnerstagabend eventuell zu einem Konzert der Baltimore Philharmoniker begleiten? Sie geben Felix Mendelsons 'Mittsommernachtstraum'. Ein leichtes Stück und ein herrlicher Auftakt für einen amüsanten Abend."

Sie lächelte verlegen.

"Donnerstagabend klingt gut."

Er lockerte seine Hand an ihrer Hüfte und drehte sie vom Spiegel weg zu sich. Dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.

"Nun, in diesem Fall schlage ich vor, dass Sie nun doch aufbrechen, Clarice. Nicht, dass ich Ihre Gesellschaft nicht genießen würde, meine Liebe, aber es ist schon spät und Sie müssen noch nach Hause zurückfahren."

"Natürlich, Sie haben vollkommen recht."

Er nickte und drehte sich um, um ihren Mantel zu holen, während sie noch einmal schnell ins Wohnzimmer ging und ihr Täschchen an sich nahm, das vorhin zurückgeblieben war. Als sie die Eingangshalle wieder betreten hatte, wartete Dr. Lecter schon an der Türe auf sie und half ihr in den Mantel. Er wirkte auf einmal wieder so distanziert wie eh und je und Clarice überfiel siedend heiß der Gedanke, dass sie keinen Schimmer davon hatte, wie sie sich von ihrem Gastgeber denn nun angemessen verabschieden sollte.

Ihm einfach nur die Hand zu geben fand sie viel zu banal, nach dem, was in den vergangenen Minuten besprochen worden war. Wollte er einen Kuss zum Abschied haben? Nun, eigentlich war sie dazu noch nicht bereit, aber konnte sie ihm einen derartigen Wunsch überhaupt verweigern, nachdem sie sein Angebot bereits angenommen hatte?

Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, nestelte sie verzweifelt an ihrem Mantel und an ihrem Täschchen herum. Dr. Lecter stand in der Zwischenzeit, eine Hand in der Hosentasche und den Kopf leicht geneigt, daneben und lächelte amüsiert.

Als ihr schließlich nichts mehr zu tun übrig blieb, musste sie sich der Situation wohl oder übel stellen. Aber sie hatte Dr. Lecter unterschätzt. Beziehungsweise hatte sie, als Bauernmädchen aus dem Süden, absolut keine Ahnung von der hohen Schule der Etikette. Deshalb war sie unendlich erstaunt, als er einfach seine Hand ausstreckte. In dem Glauben, er wollte ihr die Hand zum Abschied geben, hielt sie ihm die ihre hin.

Er überging ihren Fauxpas stillschweigend, ergriff ihre Hand, drehte sie sanft nach unten, und hob sie dann an. Dann verbeugte er sich leicht und hauchte ihr die Andeutung eines Kusses auf die Fingerspitzen. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, sagte er,

"Ihre Gesellschaft hat mir großes Vergnügen bereitet, Clarice. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich daran so bald etwas ändert, das möchte ich Ihnen noch einmal versichern. Ich erwarte den Donnerstagabend mit Ungeduld."

"Ich auch, Dr. Lecter."

"Ach ja, eines noch. Im Hinblick auf unsere zukünftige Bekanntschaft, fände ich es nicht mehr angemessen, die üblichen gesellschaftlichen Förmlichkeiten bezüglich einer korrekten Anrede weiterzuverwenden. Ich denke, wir sollten zum Du wechseln, Clarice?"

Sie zögerte ein wenig, überwand dann aber ihren inneren Widerstand und antwortete mit einem schwachen Lächeln,

"Ja... Hannibal."

"Bis Donnerstagabend, Clarice."

"Bis Donnerstagabend."

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging aus der Eingangstüre, die er ihr geöffnet hatte. Als sie den Stiegenaufgang etwa zur Hälfte hinabgestiegen war, konnte sie nicht anders und blickte noch einmal zu ihm zurück. Er stand immer noch da, lächelte breit und zwinkerte ihr zum Abschied noch einmal zu. Sie lächelte strahlend zurück.

Als Clarice weiterging, war ihr nicht bewusst, dass ihr Gang eine leichte, federnde Komponente bekommen hatte. Sie hüpfte den Rest der Stufen beinahe hinunter. Eine unbewusste Reaktion, die der Mann hinter ihr mit Wohlwollen und auch einem gewissen Maß an Selbstgefälligkeit zur Kenntnis nahm, ehe er die Türe wieder schloss.

*****

Kurze Zeit später saß Hannibal Lecter mit übereinander geschlagenen Beinen und mit leger geöffnetem weißen Hemd wieder gemütlich in seinem luxuriösen Couchsessel. In der einen Hand hielt er eine Zigarette, in der anderen Hand sein Burgunderglas mit dem Rest des Weines.

Er hatte den Kopf zurückgelehnt, blies den Rauch nachdenklich in die Luft und ließ in seinem Geist die vergangenen Minuten noch einmal Revue passieren. Clarice Starling war in der Tat eine außergewöhnlich stimulierende Persönlichkeit. Wenn man sich dazu entschloss, ihr langweiliges modisches Erscheinungsbild und ihre Unwissenheit in Fragen der Etikette zu ignorieren, dann kam eine durchaus interessante junge Frau zum Vorschein.

Er war allerdings noch immer nicht in der Lage, für sich zu verifizieren, warum er ausgerechnet diese junge Frau so anziehend fand. Die Übung im Spiegel hatte auch noch einen anderen Zweck gehabt, als nur den, ihren Blick auf ihre innerlichen und äußerlichen Qualitäten zu richten. Die unmittelbare körperliche Nähe zu ihr hatte ihn mehr in diese Übung involviert, als er sich selber zugestehen mochte. Darüber hinaus hatte er festgestellt, dass sie tatsächlich noch unschuldiger war, als er vermutet hatte.

Nicht, dass er irgendeinen gesteigerten Wert auf ihre Unberührtheit gelegt hätte. Er persönlich zog aus rein praktischen Gründen erfahrene Frauen vor, aber die kleine Starling hatte etwas an sich, das ihn persönlich ungemein reizte. Es lag nicht an ihrer Unschuld, mehr an der Art und Weise, wie sie sich ihren Platz in der Welt ertrotzte. Sie an einem seiner üblichen Bettspielzeuge zu messen, wurde ihr tatsächlich in keinster Weise gerecht.

Im Spiegel deutlich erkennbar war aber die unterschwellige Schwere gewesen, die das Mädchen, bewusst oder unbewusst, in dieser Thematik in sich trug. Etwas, das sie daran hinderte, ihre Sexualität so zu genießen, wie die meisten jungen Frauen in ihrem Alter das taten, sodass sie innerhalb einer Generation, in der die freie Liebe propagiert wurde, zu den "späten Mädchen" gehörte.

Ihr Verhalten seinen körperlichen Zuwendungen gegenüber verriet ihm, dass die Ursache dafür nicht physischer Natur war. Körperlicher Missbrauch oder Nötigung zeitigten andere Verhaltensweisen. Aber auch Clarice Starlings unterbewusstes Ich konnte ihr biologisches System nicht besiegen.

Hannibal Lecters Geruchsempfinden war mehr als nur überdurchschnittlich und ihre Pheromone hatten eine deutliche Sprache gesprochen. Sie sagten ihm, dass sie sehr wohl wollte, sich aber aus irgendeinem Grund sehr schwer damit tat, die körperlichen Aspekte einer Beziehung zu akzeptieren.

Er verspürte ein vertrautes und lustvolles Ziehen in seinem Unterleib. Amüsiert kam ihm der Gedanke, dass es die Begegnungen mit Clarice Starling aus irgendeinem Grunde einfach mit sich brachten, ihn an seine eigene Menschlichkeit zu erinnern.

Es würde ihm großes Vergnügen bereiten, jedes einzelne ihrer dunklen Geheimnisse zu erkunden und mit seinen besonderen physischen und psychischen Fertigkeiten alle jene Knoten zu lösen, die in ihrer Seele verborgen lagen.

Ein sich immer wiederholendes, summendes Geräusch drang langsam, aber eindringlich in seine Gedanken und ließ sich nicht wieder daraus verscheuchen. Es dauerte einen Moment, ehe er sich wieder soweit in der Wirklichkeit orientiert hatte, dass er erkannte, dass sein Telefon läutete. Er stand auf, ging zu dem Zimmeranschluss seiner Hausanlage und hob ab.

"Ja?"

"Hannibal, bist du das?"

Er seufzte innerlich, schaffte es aber ohne große Anstrengung, diese Gefühlsanwandlung aus seinem Tonfall heraus zu halten.

"Natürlich bin ich das, Rachel. Wer sonst sollte um diese Zeit wohl in meinem Haus an meinen Telefonapparat gehen."

"Sehr komisch, Hannibal. Ich habe bei dir in der Praxis angerufen, aber es hat sich niemand gemeldet, also dachte ich mir, dass du wohl schon zu Hause wärst."

"Ich habe mir ein wenig Arbeit mir nach Hause genommen." Die Doppeldeutigkeit seiner Worte erheiterten ihn nicht wenig.

"Das ist typisch für dich, mein Schatz. Du vergräbst dich in deiner Arbeit und denkst den lieben langen Tag wahrscheinlich nicht eine Sekunde lang an mich."

Ihr Tonfall hatte nunmehr etwas Schmollendes an sich. Wie recht du doch hast, Rachel, dachte er bei sich, sagte aber,

"Nun, zumindest gerade eben habe ich an dich gedacht, meine Liebe."

"Gerade eben erst? Wie ungemein charmant", schnurrte sie. "Ach, Hannibal, du arbeitest einfach zuviel und dann auch noch zu Hause. Komm schon, du warst mehr als eine Woche lang weg und hast es nicht für nötig befunden, mir mitzuteilen, dass du dich wieder in der Stadt befindest. Könnte es sein, dass ich meinen Status als deine gegenwärtige Favoritin bereits wieder aufgeben muss?"

Er lachte. Sie versuchte zwar einen Scherz daraus zu machen, aber ihm war der bittere Ernst und die Nuance an Eifersucht in ihrer Aussage keineswegs entgangen. Er beschloss, noch ein wenig Öl ins Feuer zu gießen und antwortete anzüglich,

"Wie kommst du nur auf so etwas, Rachel? Noch habe ich keine Frau getroffen, die auf mich eine so... entspannende Wirkung hat wie du."

"Wie schön, mein Schatz, dann hast du ja nichts dagegen, wenn ich noch zu dir komme und dafür sorge, dass du dich auch wirklich entspannst. Was meinst du?"

Er konnte die Sehnsucht in ihrer Stimme hören und das sexuelle Verlangen. Er erinnerte sich wieder an das vertraute Ziehen in seinem Unterleib.

Hannibal Lecter überlegte kurz. Es war noch nicht allzu spät und er schätzte Rachel DuBerrys weibliche Gesellschaft und ihre "technischen" Fertigkeiten durchaus. Ohne weitere Verzögerung willigte er ein.

Immerhin war auch er nur ein Mann aus Fleisch und Blut.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 7: Vergügungen

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
Keine Verletzung von Urheberrechten ist beabsichtigt.

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