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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Variante 1
Variante 2
Variante 3
(noch nicht erschienen)

Kapitel 7: Vergügungen

Clarice Starling lag in ihrem kleinen Bett in ihrem kleinen Zimmer und ließ trotz ihrer Müdigkeit die Ereignisse des Abends noch einmal an ihrem geistigen Auge vorbeiwandern.

Sie hatte keine konkreten Vorstellungen zu diesem Abend gehabt. In keinem Fall hatte sie nach ihren vorherigen Erlebnissen mit Hannibal Lecter damit gerechnet, auf einen derartig charmanten und rücksichtsvollen Mann zu treffen. Ein Mann, der möglicherweise dein erster Liebhaber ist, dachte sie bei sich.

Eine Welle der Hitze stieg in ihr auf. Nachdem sich ihr Adrenalinspiegel wieder gesenkt hatte, waren ihr nun auch andere Sinneseindrücke zugänglich, die sie aufgrund ihrer Nervosität zuvor nicht wirklich wahrgenommen hatte. Sie erinnerte sich plötzlich an den warmen Geruch seiner Haut und seines After Shave, an seinen Atem, der nach dem herrlichen Wein gerochen hatte, den er mit ihr gemeinsam in seinem Wohnzimmer genossen hatte, an seine ungewöhnlich feste Brustmuskulatur durch sein makellos weißes Hemd hindurch an ihrem Rücken, an die Bestimmtheit, mit der er sie an der Hüfte festgehalten hatte...

Ihre große Müdigkeit ließ Clarice unbewusst und übergangslos in den Nebel eines diffusen Traumes gleiten. Realität und Sinneseindrücke vermischten sich zu einem dunkelrot-schwarzen, düsteren erotischen Gebilde, das ihr den Schweiß aus allen Poren trieb und sie sich in ihrem Bett hin und herwälzen ließ.

Clarice Starling hatte noch aus einem anderen Grund ein eigenes Zimmer zugestanden bekommen. Ihre früheren Zimmergenossinnen hätten ein Lied von diesen nächtlichen Zuständen singen können, die es für jemand anderen fast unmöglich machten, Ruhe zu finden. Es gab fast keine Nacht, in der sie nicht schweißgebadet und alptraumgeplagt aufwachte.

Diesmal war der Traum allerdings ein vollkommen anderer. Er quälte ihren Körper auf eine sinnliche Art und Weise, die der schlafenden Clarice erstaunlich bewusst war, ohne sie allerdings aus diesem traumhaften Zustand zu entlassen.

Sie lief durch die schattenhaften Korridore ihres Traumes, gejagt von lustvollen und unaussprechlichen, furchtbaren und abgrundtief erregenden Dingen. Als ihr Geist sich schließlich doch aus diesem düsteren Gefängnis befreite, war sie körperlich vollkommen erschöpft.

Aber auch das Aufwachen verschaffte ihr keine wirkliche Erleichterung, denn obwohl sie sich nur sehr vage an die Geschehnisse in ihrem Traum erinnern konnte, erwachte sie mit dem entsetzlich bedrückenden Gefühl einer schlechten Vorahnung.

*****

Das Schlafzimmer des großen Hauses war nur spärlich von einigen Kerzenlampen erleuchtet. Trotzdem warf das wenige Licht die ineinander verschmolzenen Schatten zweier Körper an eine der Wände des Schlafzimmers. Der muskulöse Körper eines Mannes, der sich über dem einer grazilen Frau hob und senkte, die wiederum ihre Beine um seine Hüften geschlungen hatte. Das leidenschaftliches Stöhnen der Frau und das tiefe Atmen des Mannes unterstrichen seinen Rhythmus und seine geschmeidigen Bewegungen.

Als sich die Heftigkeit und die Intensität seiner Stöße verstärkten, nahm auch das leidenschaftliche Stöhnen der Frau zu. Sie war keine leise Geliebte und das Erreichen ihres Höhepunkts war an ihrer Lautstärke unschwer zu erkennen. Unmittelbar darauf steigerten sich auch die kurzen heftigen Atemstößen des Mannes, bis er schließlich mit einem leichten Stöhnen innehielt und anschließend auf die Frau niedersank.

Einige Sekunden später rollte er sich von ihrem Körper herunter. Er öffnete eine Schublade seines Nachtkästchen und offerierte seiner Gefährtin eine Zigarette und Feuer. Sie nahm dankend an. Anschließend zündete auch er sich eine Zigarette an, nahm einen Aschenbecher von dem Tischchen neben seinem Bett und leistete ihr Gesellschaft.

Eine Zeitlang lagen beide nebeneinander im Bett, starrten an die Decke und rauchten schweigend. Als sie damit fertig waren, begann die Frau zu sprechen,

"Hannibal?"

"Hmm?"

"Wer ist sie?"

"Wer ist wer?"

"Deine Neue."

"Meine Neue? Rachel, ich habe es dir doch schon am Telefon gesagt. Wie kommst du darauf, dass jemand anderer deinen Platz in meinem Bett eingenommen haben könnte?"

"Nun, wenn du es genau wissen willst: du hast ihren Namen geflüstert."

"Habe ich das?"

"Ja. Kurz, bevor es dir gekommen ist."

Beide schwiegen. Plötzlich drehte sich Rachel zu Hannibal Lecter herum und stützte sich auf ihrem Ellenbogen ab. Sie wiederholte mit Nachdruck ihre Worte von vorhin.

"Du hast ihren Namen geflüstert. Sie heißt Clarice."

Als er ihr auch diesmal eine Antwort schuldig blieb, richtete sich die Frau in eine sitzende Position auf. Ihre Stimme hatte eine bedrohliche Schärfe angenommen.

"Also, wer ist sie?"

"Rachel, ich bitte dich. Mach mir keine Szene. Glaub mir, ich schätze deine Fertigkeiten im Bett wirklich sehr, aber ich denke, ich habe dir von Anfang an klargemacht, dass ich meine Freiheit unter keinen Umständen aufgeben möchte."

Nach einer gewichtigen Pause setzte er boshaft nach,

"Du musst dir keine Sorgen machen, Rachel. Wirklich nicht. Sie ist niemand, der deine Position gefährdet, zumindest nicht im Moment."

Rachel DuBerry war nicht nur eine ungewöhnlich schöne Frau, sie war auch sehr stolz. Obwohl seine Worte sie sehr verletzten, wollte sie dieses Gefühl unbedingt vor ihm verbergen. Sie hatte natürlich von Anfang an gewusst, worauf sie sich mit diesem Mann einließ, und er hatte ihr seinen Standpunkt wirklich klar und deutlich dargelegt. Charmant, aber dennoch mit brutaler Ehrlichkeit hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass für ihn eine feste Bindung nicht in Frage käme und dass sie nie mehr für ihn sein könnte, als eine amüsante Affäre.

Rachel hatte aber wider besseres Wissen doch darauf gehofft, dass Hannibal Lecter im Laufe ihrer recht lockeren Beziehung seine Ansichten zu diesem Thema noch einmal überdenken würde. Und sie gab auch jetzt noch nicht alle Hoffnung auf. Sie war aber klug genug, um in der Gegenwart dieses Mannes nicht von Liebe oder gar Eifersucht zu sprechen, also zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte,

"Das hoffe ich sehr, Hannibal. Ich würde das hier...", mit diesen Worten griff sie fordernd an seinen Unterleib, "...wahrscheinlich sehr vermissen."

Sie streichelte und massierte sein ermattetes Geschlecht, dass sich unter ihren kundigen Händen wieder zu regen begann.

Als sie ihm in die Augen sah, strahlten seine Augen vor Heiterkeit. Um seinen Mund spielte ein freches Grinsen. Er zwinkerte ihr zu, hob vielsagend eine Augenbraue und konterte anzüglich,

"Dann möchtest du vielleicht noch ein wenig Überzeugungsarbeit leisten, Rachel?"

Mein Gott, sie wollte diesen Mann mehr als alles andere nur für sich haben. Ein Teil von ihr wusste, dass genau das niemals geschehen würde, ein anderer Teil von ihr hoffte und sehnte sich dennoch danach. Lecter sah den Schmerz in ihren Augen und genoss ihn in vollen Zügen.

Dann beugte sie sich hinunter, nahm die Spitze seines mittlerweile harten Gliedes in ihren weichen, vollen Mund und ersetzte dieses Vergnügen durch ein anderes.

*****

Clarice Starling wartete in strömenden Regen. Sie hätte das Institutsgebäude vor sich sehr wohl betreten können, war aber nicht wirklich unglücklich über dieses feuchte und kalte Wetter, denn Regenschirm und Mantel verbargen ihr Gesicht recht gut vor all denen, die um diese Tageszeit auf dem Gelände der UVA herumspazierten. Sie war wirklich dankbar, dass Hannibal Lecter ebenfalls sehr um Diskretion bemüht war.

Es war immer eine heikle Angelegenheit, wenn ein Professor und eine Studentin privat miteinander gesehen wurden. Wobei die Studentin in der Beurteilung der Situation erwartungsgemäß immer schlechter abschnitt. Sie konnte auf die nimmermüde Gerüchteküche und die gehässigen und geflüsterten Bemerkungen ihrer Kommilitonen gerne verzichten. Deshalb hatten Dr. Lecter und sie telefonisch miteinander vereinbart, dass man sich beim Hintereingang des Institutsgebäudes der Kriminologie treffen würde.

Sie hätte zwar ohne weiteres mit ihrem eigenen Wagen nach Baltimore fahren können, aber Dr. Lecter hatte ihr mitgeteilt, dass er ohnehin seit gestern wieder auf dem Gelände war, um noch einige Dinge zu erledigen und sie bei dieser Gelegenheit gleich mitnehmen konnte. Im Anschluss an das Konzert würde er sie wieder mit sich nach Charlottesville nehmen.

Clarice war sich im klaren darüber, dass Dr. Lecter mit dieser Lösung einige Unannehmlichkeiten in Kauf nahm, aber sie hatte sein Angebot trotzdem angenommen. Benzin war teuer und die Erhaltung ihres kleinen Autos kostete sie ohnehin schon genug. Wenigstens hatte sie sich das Kleid für heute Abend von einer ihrer Studienkolleginnen ausborgen können.

Clarice war keine Frau, die sich in Szene setzte, aber sie war ihrer Verlässlichkeit und Hilfsbereitschaft wegen im Studentenheim recht beliebt und bekannt dafür, dass sie auf die Sachen aufpasste, die sie sich ausborgte. Deshalb hatte sie sich auch ein angemessenes Kleid für den heutigen Abend von einer der besser situierten Studentinnen organisieren können. Es war schwarz und sehr einfach im Schnitt, aber es passte wie angegossen und unterstrich ihre doch recht ansehnliche Figur sehr vorteilhaft. Sie hatte natürlich keinen Schmuck und das Haar hatte sie sich einfach nur aufgesteckt, aber im großen und ganzen war sie mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass ihr Begleiter für den heutigen Abend ebenfalls dieser Meinung sein würde.

Sie fröstelte. Dr. Lecter war noch nicht wirklich zu spät, aber sie wartete nun doch schon eine gewisse Zeit. Wo er nur blieb...

*****

Hätte man Robert J. Collins Junior die Wahl gelassen, dann hätte er es trotz der darin enthaltenen Endgültigkeit mit ziemlicher Sicherheit vorgezogen, nicht mehr aus seiner Betäubung aufzuwachen. Aber leider waren die Götter des Schicksals offenbar wenig geneigt, ihm in seinen letzten Stunden und Minuten helfend zur Seite zu stehen.

Als er sich langsam aus dem trüben Nebel der Bewusstlosigkeit zurück in ein bewusstes Sein kämpfte, hatte er zunächst große Schwierigkeiten damit, sich zu orientieren. Ihm wurde allerdings sehr schnell klar, dass er sich zum einen in völliger Dunkelheit befand und zum anderen, dass er gewisse Schwierigkeiten damit hatte zu atmen. Er versuchte es zwar, aber irgendetwas schien in seinem Mund zu stecken und zwar ziemlich weit hinten. Irgendetwas, das er trotz seiner Bemühungen einfach nicht ausspucken konnte.

Er versuchte, den Würgereiz so gut es ging unter Kontrolle zu halten und sich ein wenig aufzurichten. Es ging nicht. Ein neuerlicher Versuch stellte klar, dass er sich aus irgendeinem Grund nicht bewegen konnte. Robert wurde mit einmal klar, dass es sich dabei nicht um ein Hindernis materieller Art handelte, sondern dass er schlichtweg nicht dazu in der Lage war, seinen Körper auch nur einen Millimeter zu bewegen. Keinen einzigen Teil seines Körpers. Er war zwar mittlerweile wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, hatte aber ein vollkommen falsches Körpergefühl.

Er versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern, welches Geschehen ihn in diese unangenehme Lage versetzt haben konnte. Aber so sehr er sich auch bemühte, das letzte, was er sich bewusst wieder ins Gedächtnis zurückrufen konnte, war, dass er nach dem Mittagessen noch ein wenig im Park herumgelungert hatte.

Nach den Lichtverhältnissen in dem Raum in dem er sich befand zu urteilen, war es Nacht. Aber war es noch derselbe Tag? Er hatte offensichtlich jegliches Zeitgefühl verloren. Und wo befand er sich hier überhaupt? Hatte er einen Unfall gehabt? Ja, das musste es sein...

Aber der Raum erschien ihm nicht wie ein Krankenzimmer. Nicht, dass er seine Situation optisch hätte beurteilen können, aber es fehlten die für ein Krankenhaus so typischen Geräusche und Gerüche. An dem Ort, an dem er sich befand, war es geradezu unheimlich still. Bis zu dem Moment, als er stark gedämpft hörte, wie ein Schlüssel in einem Schloss gedreht und irgendwo eine Türe geöffnet wurde.

Irgendjemand betrat den Raum. Robert fluchte innerlich, weil er nicht imstande war, seinen Kopf zu drehen oder irgendeinen Ton von sich zu geben. Eigenartigerweise schenkte ihm die Person nicht unmittelbar ihre Aufmerksamkeit, sondern schien damit beschäftigt, die Türe sehr sorgfältig wieder zu verschließen. Dann ging dieser Jemand eine ganze Weile im Zimmer herum und beschäftigte sich mit diversen Sachen, die Robert allerdings nicht richtig zuordnen konnte.

Es war heiß und stickig an seinem Ort. Aber es war die Tatsache, dass er nicht auf sich aufmerksam machen konnte, die ihm den Angstschweiß aus allen Poren trieb.

Urplötzlich vernahm er ein schnappendes Geräusch und einen Moment später wurden seine Augen von gleißendem Licht geblendet. Gleichzeitig überspülte eine Welle kühler, herrlich frischer Luft seine Haut. Er blinzelte, aber die Tränenflüssigkeit, die ihm in die Augen schoss, machte es unmöglich, in der Person, die sich offensichtlich gerade über ihn gebeugt hatte, mehr als einen dunklen Schatten zu sehen. Es dauerte eine ganze Weile bis er sich soweit an die hellen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, dass er das Gesicht des Mannes erkennen und einordnen konnte.

Die Erkenntnis durchfuhr ihn siedend heiß. Der Psycho! Das war doch der Psychiater, vor dem er im Hörsaal letzthin erst diese kleine Show abgezogen hatte. Er hatte sich nicht wenig geärgert, als ihm die beiden Mädchen im Anschluss an die Vorlesung berichtet hatten, wie cool der Professor seinen Auftritt weggesteckt und sich auch noch über ihn lustig gemacht hatte.

Und ausgerechnet der hatte ihn offensichtlich im Park gefunden, oder wo auch immer ihm dieses Missgeschick passiert war. Nun, Schwamm drüber, immerhin war hier jemand, der ihm geholfen hatte und ihm vermutlich auch weiter helfen würde. Er versuchte, sich irgendwie zu artikulieren, aber er konnte nichts anderes tun als seine Augen weit aufzureißen und den Mann anzustarren.

Der Mann verstand diese schwache Botschaft aber scheinbar trotzdem, denn er begann zu lächeln und sagte schließlich mit milder Stimme,

"Ah, Mr. Collins, wie ich sehe, sind Sie bereits aufgewacht. Sehr gut. Sie fragen sich wahrscheinlich, wie Sie hierher gekommen sind und wo Sie sich befinden. Machen Sie sich keine Gedanken darüber, glauben Sie mir, es spielt keine Rolle. Nicht mehr."

Es spielt keine Rolle mehr? Was sollte das heißen? Konnte ihm der Mann nicht helfen oder wollte er nicht? Das Lächeln des Mannes war Robert irgendwie unheimlich.

Er hob unter enormen Anstrengungen fragend sein Augenlid. Scheiße. Dieser verdammte Typ hatte einfach die Pflicht ihm zu helfen! Stattdessen stand er nur da und grinste dumm in der Gegend herum.

"Mr. Collins, selbst in Ihrem bewegungsreduzierten Zustand kann ich sehr gut erkennen, was in Ihnen vorgeht. Sie sind wütend und Sie haben Angst, weil sie die Möglichkeit in Betracht gezogen haben, dass ich Ihnen nicht helfen werde. Oh, nur keine Angst, ich werde Ihnen helfen, Mr. Collins, aber anders, als Sie es sich von mir erwarten."

Er machte eine gewichtige Pause, dann seufzte er übertrieben.

"Glauben Sie mir, es ist nicht leicht jemanden von den Vorteilen des Nichtseins zu überzeugen. Zumal es sich ja um das eigene Sein der betreffenden Person handelt. Deshalb musste ich Sie einfach in einen Zustand versetzen, in dem Sie mir meinen Standpunkt nicht streitig machen können."

Robert durchzuckte ein eisiger Schauer und in seinen Gedanken mischten sich Entsetzen und Unverständnis. Was sollte das Gequatsche? Der Typ wollte ihm doch sicher nur Angst einjagen wegen der Sache im Hörsaal. Dieser Psycho hatte das Ganze offenbar doch nicht so gut weggesteckt wie er alle hatte glauben lassen. Oder wollte ihn dieser Irre wirklich umbringen?

Was hat er eigentlich in seiner Hand? Das kleine Ding da ist doch nicht etwa... oh, mein Gott, er hat wirklich ein Messer!

"Die Bestrafung muss natürlich sorgfältig auf das Vergehen des Delinquenten abgestimmt sein. In Ihrem Fall habe ich also dafür zu sorgen, dass durch Ihr lästerliches Mundwerk und ihr ungehöriges Betragen niemand mehr der Lächerlichkeit preisgeben wird. Sie werden also für die kurze Zeitdauer, die Sie noch auf diese Daseinsebene verweilen werden, ohne diese beiden Dinge auskommen müssen, fürchte ich."

Hannibal Lecter beobachtete, wie das nackte Grauen in den Augen des jungen Mannes trat, als sich die Erkenntnis in ihm breit machte, dass er für seine dumme, pubertäre Aktion tatsächlich sein Leben würde lassen müssen. Er ließ ihm genug Zeit, um diese Tatsache in ihrer vollen Tragweite auch wirklich zu erfassen, ehe er fortfuhr,

"Nun, Mr. Collins, ich kann mir vorstellen, dass Sie brennend daran interessiert sind zu erfahren, wie Sie unsere schöne Welt verlassen werden. Also, ich habe in Ihren Mund ein Tuch geschoben und genau dasselbe werde ich gleich mit Ihrer Nase machen. Das wird Ihrem jungen, kräftigen Körper noch nicht allzu hart zusetzen. Zumindest nicht so schnell. Sie werden zwar große Mühe haben zu atmen, aber es wird Sie nicht gleich umbringen. Um diesen Zweck zu erreichen, werde ich die Tücher langsam befeuchten. Tropfen für Tropfen. - Oh, Sie können noch eine ganze Weile weiter atmen, aber in Ihrem Körper wird sich eine Sauerstoffschuld ansammeln. Mit jedem Atemzug ein wenig mehr und mehr und mehr..."

Seine Stimme war jetzt beinahe suggestiv. Der nackte Horror in den Augen des unverschämten jungen Proleten war köstlich.

"Diese Vorgehensweise war in den Folterkellern des Mittelalters eine ausgesprochen beliebte Methode, weil man sie beliebig lange ausdehnen kann. Man muss nur aufpassen, dass einem der Kreislauf des Betreffenden nicht plötzlich einen Strich durch die Rechnung macht. Sie dürfen sich aber glücklich schätzen, Mr. Collins, dass ich heute noch anderweitig verpflichtet bin, denn sonst wäre ich sehr dazu geneigt gewesen, Ihre Atemkapazität vollständig auszuloten."

Er zuckte bedauernd die Schultern und drehte sich um, wie um nach etwas zu suchen. Schließlich entfernte er sich ein paar Schritte und kam mit einem Streifen weißen Stoffes wieder zurück. Er schnitt mit dem kleinen Messer in seiner Hand zwei kleine Stücke davon ab und legte alles beiseite. Dann griff er unter die Achseln des Studenten, zog ihn hoch und legte ihn wieder nach hinten. Da sich dadurch für einen kurzen Augenblick das Blickfeld des jungen Mannes veränderte, sah er, dass er sich zusammengekauert, in einer Art großer Koffer befand. Dr. Lecter ließ ihm allerdings keine Zeit für genauere Beobachtungen, sondern schob seinen Kopf wieder zurück.

Anschließend legte er eine seiner Hände auf Roberts Stirn, um den Kopf zu fixieren, und mit der anderen schob er die zwei kleinen Stofffetzen in die jeweiligen Nasenlöcher. Die Art und Weise wie der junge Mann dabei seine Augen verdrehte, gefiel ihm gar nicht. Offensichtlich setzte ihm der Stress mehr zu, als es Dr. Lecter lieb sein konnte. Er spitzte die Lippen, dachte kurz nach, und ging dann zu seinem Schreibtisch, wo er eine kleine Schachtel öffnete.

Dr. Lecter entnahm ihr eine Injektionsspritze und ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit, dessen Deckel er mit der Nadel durchstieß und mit einer tausendfach routinierten Handbewegung, die Flüssigkeit in die Injektionskammer zog. Anschließend schnippte er mit Daumen und Zeigefinger gegen den unteren Teil der Spritze, um eventuell vorhandene Luftbläschen zu entfernen. Man konnte nie vorsichtig genug sein.

Die Flüssigkeit injizierte er anschließend in den freigelegten Oberarm des Studenten. Als sich die Augen des jungen Mannes nach kurzer Zeit wieder zu klären begannen, klopfte er ihm väterlich auf die Schultern und sagte,

"Nun, nun. Ich habe Ihnen ein leichtes, kreislaufstabilisierendes Mittel gespritzt. Wir wollen doch beide nicht, dass Sie so schnell aufgeben, nicht wahr? Zumal ich Ihnen noch eine kleine Eröffnung machen muss, ehe wir endgültig ans Werk schreiten."

Er schob sich einen Sessel zu seinem Platz und setzte sich darauf. Dann beugte er sich wieder nach vorne.

"Nun, Mr. Collins, viele gelehrte Wissenschaftler meiner Fachrichtung mutmaßen seit geraumer Zeit, was ich mit den Organen mache, die ich meinen Opfern nach deren Tod üblicherweise entnehme..."

Er machte eine Pause und starrte dem jungen Mann intensiv in die Augen, ehe er auflachte.

"Ah, dem Aufblitzen in Ihren Augen nach zu urteilen, haben Sie schon von mir und meinen kleinen Übungen gehört oder gelesen. Trotz der Offensichtlichkeit ist aber keiner meiner sogenannten Fachkollegen auf das Naheliegendste gekommen. Nun, Mr. Collins, wir müssen Ihnen verzeihen, denn sehen Sie, das Verspeisen von Subjekten der eigenen Art oder auch nur Teilen davon, ist eines der letzten wirklichen Tabus unserer sogenannten Zivilisation."

Seine Augen funkelten.

"Nun, ehrlich gesagt, werde ich von Ihnen nicht allzu viel benötigen. Wie im Leben, so werden Sie auch auf meinem Teller nur eine sehr nebensächliche Rolle spielen, Sauce al'amatriciana... wenn Sie wissen, was ich meine. Nicht? Nun, das spielt ebenfalls keine Rolle mehr für Sie, denke ich!"

Der Anblick seines kalten Lächelns war entsetzlich.

"Aber ich verspreche Ihnen, den Rest Ihres Körpers auf angemessene Weise zu entsorgen. Als Student der Psychologie haben Sie sich dem Dienst an der Allgemeinheit verschrieben, und ich würde es nur ungern sehen, wenn Sie diesem drängenden Wunsch Ihrerseits nicht nachkommen könnten. Daher werde ich den Rest Ihrer körperlichen Substanz einigen Institutionen zur freien Verfügung stellen.

Ich denke da im besonderen an Tierheime, die sich immer wieder über Fleisch- und Knochenspenden freuen, auch über anonyme. Sie müssen wissen, ein derartig langsamer Erstickungstod hat nämlich noch eine andere Wirkung auf den Körper eines Menschen. Die Adrenalinausschüttung ist durch die Panikzustände, die Sie durchleben werden, sehr stark und das verleiht Teilen Ihres Körpers wiederum ein besonders wohlschmeckendes Aroma. Ich denke, die Hunde werden sich sehr freuen."

Er nickte gönnerhaft.

"Und was den übrig gebliebenen Rest und Ihre identifizierbaren Teile betrifft, nun, Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach ihre letzte Ruhestätte wohl auf einer der Mülldeponien unseres Landes finden. Ich möchte mich dafür entschuldigen, aber das Vermögen und der Einfluss Ihrer Familie sind nicht unbeträchtlich. Ihr Verschwinden wird also einigen Staub aufwirbeln, fürchte ich. Sie sehen sicher ein, dass ich kein Risiko eingehen kann, das mich in irgendeiner Weise mit Ihnen in Verbindung bringen könnte."

Er blickte hoch auf die Wanduhr, die über dem Eingangtür des Büros hing. Dann verglich er die Zeit mit seiner Armbanduhr, ehe er die Stirn kritisch in Runzeln legte. Dann beugte er sich wieder zu dem jungen Mann hinunter.

"Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich vorschlagen, wir beginnen jetzt mit unserem Vorhaben. Meine Zeit wird wirklich knapp und ich möchte meine reizende Begleiterin für heute Abend nicht mehr als nötig warten lassen. Das wäre sehr unhöflich, da stimmen Sie mir sicher zu, Mr. Collins."

Mr. Robert J. Collins Junior hätte zu diesem Thema wahrscheinlich noch einiges zu sagen gehabt, aber das Schicksal hatte es anders gewollt. Hannibal Lecter nahm ein dunkles Fläschchen aus seiner Brusttasche und öffnete es. Er entnahm ihm mir einer Tropfpipette etwas Flüssigkeit und begann dann langsam, das Wasser auf den Stoff in Mund und Nase des Studenten zu träufeln.

*****

Das Konzert war großartig, zumindest für jemanden, der selten in den Genuss eines solchen musikalischen Ereignisses kam. Clarice Starlings musikalische Präferenzen lagen zwar nicht unmittelbar im klassischen Bereich, denn dafür hatte sie sich mit dieser Musikrichtung noch zu wenig auseinandergesetzt, aber sie genoss die Atmosphäre und das Ambiente dafür umso mehr.

Der ganze Abend war von Beginn an ein absoluter Erfolg gewesen. Zwar hatte sie Hannibal Lecter einigermaßen verspätet vor den Toren des Institutes abgeholt, aber er hatte sie dafür ausgesprochen charmant begrüßt. Wenn er mit ihrer Garderobe nicht einverstanden war, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Im Anschluss daran, hatte er sie gleich zu seinem Parkplatz geführt.

Dort stand – Clarice konnte es kaum fassen ein – ein schwerer, weiß-silbermetallicfarbener Bentley Anarge. Sie hatte mit viel Mühe versucht, sich ihre Begeisterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen, aber ihrem Begleiter war ihr Enthusiasmus trotzdem sofort aufgefallen. Die meiste Zeit bis Baltimore war wie im Flug vergangen, denn sie hatten sich fast die ganze Zeit über Autos und Luxuskarossen unterhalten, eines von Clarices persönlichen Lieblingsthemen. Erst gegen Ende der Fahrt hatte Dr. Lecter gefragt, ob sie die Musikstücke, die heute Abend gegeben wurden, kannte.

Leicht beschämt hatte sie verneint und darauf gewartet, ein Zeichen der Missbilligung zu ernten. Er war aber gar nicht näher darauf eingegangen, sondern hatte ihr eine sehr interessante und kenntnisreiche Einführung zu dem Komponisten und seinem Werk gegeben. Außerdem hatte sie bei dieser Gelegenheit so ganz nebenbei erfahren, dass ihr Verehrer zum Förderkreis und Vorstand des Baltimore Philharmonic Orchestra gehörte.

Mit leichtem Erstaunen stellt Clarice fest, dass auch sie scheinbar zu den Frauen gehörte, die nicht unempfänglich für den gesellschaftlichen Status eines Mannes waren. Sie hatte bisher nur noch nie die Gelegenheit gehabt, dies herauszufinden. Das fundierte Wissen und die überragende Intelligenz Dr. Lecters waren quasi so etwas wie ein zusätzlicher Bonus. Auch die Aura der Autorität, die ihn ständig umgab, hatte für sie, jetzt da sie seine charmante, bezaubernde Seite kannte, nichts Abschreckendes mehr an sich. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie sein dominantes Auftreten zunehmend anziehend fand.

Diese Erkenntnis verwirrte sie, denn sie schätzte sich selbst eigentlich eher als den unabhängigen, kämpferischen Frauentyp ein. Aber als sie nun im Konzertsaal neben ihrem attraktiven Begleiter saß, konnte sie ihre Gedanken kaum von der Tatsache abwenden, wie gut er doch in seinem eleganten dunkelgrauen Anzug aussah.

Während die Musik an ihr vorbeizog, ohne sie im Besonderen zu berühren, überdachte sie ihre Situation. Die Welt, in die er sie heute Abend mitgenommen hatte, war ihr größtenteils fremd, aber sie könnte lernen sie zu mögen. Die Frage war nur, ob es sich für sie überhaupt lohnte, sie näher in Augenschein zu nehmen. Clarice Starling war sich im Klaren darüber, mit wie wenig Rüstzeug sie ihr bisheriges Leben für seine Welt der gehobenen Genüsse und Ansprüche ausgestattet hatte.

Und sie war sich ebenfalls klar, dass bis auf weiteres allein Hannibal Lecter ihr den Zugang zu dieser Welt ermöglichen konnte. Gut möglich, dass sie es im Lauf ihres Lebens aus eigener Kraft schaffen konnte, sich genug materiellen Wohlstand und Wissen anzueignen, um sich wieder an diese Welt heranzuarbeiten, aber wirklich erreichen würde sie sie wohl nicht.

Wenn sie sich jetzt allzu sehr auf all diese wundervollen Dinge einließ, die er ihr offerierte, dann würde sie sie nur umso schmerzlicher vermissen, wenn die Affäre mit diesem Mann wieder vorbei war. Clarice war realistisch genug, um von Hannibal Lecter keine Liebe zu erwarten.

Bei diesem Gedanken verspürte sie ein schwaches Ziehen in ihrer Brust. Sie atmete tief durch. Da, es war schon fast passiert. Sie würde höllisch aufpassen müssen. Es fehlte gerade noch, dass sie sich in diesen ungewöhnlichen Mann verliebte.

Es war eine auf gegenseitiger, körperlicher Anziehung basierende Bekanntschaft. Nichts weiter. Er wollte sie in seinem Bett haben und um sein Ziel zu erreichen, agierte er eben im Rahmen seiner Möglichkeiten. Der Unterschied zu den meisten jungen Männern ihrer Alterklasse war einfach der, dass ihm durch seinen materiellen Wohlstand und seinen Intellekt einfach mehr Möglichkeiten zur Verfügung standen. So einfach war das.

Sie wäre dumm, wenn sie hinter all seinem Charme und seinen Komplimenten mehr vermuten würde als das simple körperliche Begehren eines Mannes. Sie konnte trotzdem nicht umhin, sich durch seine offensichtliche Aufmerksamkeit geschmeichelt zu fühlen. Er hatte recht gehabt, damals in seinem Büro. Sie hasste und fürchtete den Gedanken gewöhnlich zu sein.

Dass ein Mann seiner Klasse sich die Mühe machte um sie zu werben, wertete sie auf, obwohl sie den Gedanken sich aushalten zu lassen, einfach unerträglich fand. Aber vielleicht würde die Beziehung gar nicht so lange andauern, dass sie in eine derartige Verlegenheit kam. Möglicherweise verlor er, wenn er sie erst einmal gehabt hatte, sehr schnell das Interesse an ihr. Was wusste sie denn schon von dem Mann. Wenig bis gar nichts.

Es war also besser, sich auf das zu konzentrieren, was sie hatte, und nicht allzu weit in die Zukunft zu denken. Genieß es, dachte sie bei sich. Was könnte dir besseres passieren, als dein erstes Mal mit einem so kultivierten und rücksichtsvollen Mann zu verbringen? Einem Mann, der ehrlich genug ist zu sagen, was er von dir möchte, und dir dabei nichts vormacht, der dich aber zu nichts zwingt und dir deine eigene Zeit dafür lässt.

Clarice hatte sich noch nicht viele Gedanken über ihre Jungfräulichkeit gemacht. Es war nicht so, dass sie sich für etwas oder jemanden aufgespart hätte. Andererseits hatte ihr der Mangel an sexueller Aktivität auch noch keine besonderen Nöte bereitet, denn sie war viel zu sehr mit ihrer Ausbildung und ihrer zukünftigen Karriere beschäftigt, um sich um derlei Dinge wirklich zu sorgen. Der Richtige war ihr einfach noch nicht über den Weg gelaufen.

Aber jetzt ist er es.

Diese fundamentale Erkenntnis lies sie bis zu den Haarwurzeln erröten. Glücklicherweise war der Konzertsaal abgedunkelt und ihre unmittelbaren Sitznachbarn viel zu sehr mit der Performance der Künstler beschäftigt, um ihr auch nur die kleinste Beachtung zu schenken. Sie blickte zu Hannibal Lecter an ihrer Seite und sah wie konzentriert er der Musik lauschte. Erneut machte sich bei ihr die Erkenntnis breit, wie unglaublich attraktiv sie ihn neuerdings fand.

Man kann nicht alles haben, Clarice, ermahnte sie sich wieder. Nimm, was er dir anbietet, und genieß es, solange es dauert. Zum Teufel, irgendwann muss es ja einmal passieren und wenn, dann mach es wenigstens mit dem besten Mann, den du bekommen kannst!

*****

Man konnte nicht behaupten, dass Hannibal Lecter das Konzert besonders genoss. Nicht, dass er Mendelssohn und seinen Mittsommernachtstraum nicht geschätzt hätte, aber dieser absolut untalentierte erste Flötist war eine Schande für das ganze Orchester und verleidete ihm durch seine immer wiederkehrenden falschen Tonfolgen den gesamten Kunstgenuss.

Hannibal Lecter hatte ein absolutes musikalisches Gehör. Ihm war klar, dass nicht viele professionelle Musiker seinen Ansprüchen gerecht werden konnten, und deshalb hatte er sich bislang in Geduld geübt und über diesen Dilettanten und seine Darbietung hinweggesehen, aber heute Abend lieferte Benjamin Raspail wirklich die Vorstellung seines Lebens. Seine Orchesterkollegen und auch der Dirigent sahen mehrmals indigniert und zum Teil auch schockiert zu ihm herüber, aber er schien sich seiner mangelhaften Leistung gar nicht bewusst zu sein.

Als er beim Scherzo gleich mehrmals laut und deutlich daneben blies, war sein Schicksal besiegelt. Dieses Individuum würde die Qualität des Baltimore Philharmonic Orchestra nicht länger herabsetzen.

Hannibal Lecter ging im Geist die Termine durch, die er in seiner Funktion als Psychiater mit diesem Mann noch vereinbart hatte. Dieser schwache und schwabbelige Mann hatte bereits einige Therapiesitzungen bei ihm in Anspruch genommen. Aber das nächste Mal würde definitiv das letzte Mal sein. Er würde dafür sorgen, dass der Termin auf eine Zeit verlegt wurde, zu der er Thelma ohne Verdacht zu erregen nach Hause schicken konnte.

Dann würde Benjamin Raspail sich das letzte Mal auf seiner Couch die Seele aus dem Leib jammern. Er würde sich mit seiner schwachen, fisteligen Stimme sein eigenes Requiem singen. Die amüsante Symmetrie dieser Überlegung ließ Hannibal Lecters Stimmung wieder auf ein angemessenes Niveau steigen.

*****

"Wir gehen noch zu einem Empfang?"

"Aber sicher, meine liebe Clarice. Ich bin einer der Vorstände des Orchesters und muss mich bei einer solchen Gelegenheit selbstverständlich blicken lassen." Er lachte. "Keine Angst, es wird dir gefallen. Wir bleiben auch nicht lange. Ich denke aber, dass es keine schlechte Idee wäre, wenn du dich vor der Heimfahrt noch ein wenig stärken würdest. Es ist doch noch ein weiter Weg."

"Ich glaube nicht, dass ich..."

"Denk nicht, Clarice, genieße es einfach. Du bist mehr als adäquat, glaub mir. Mit deiner natürlichen Schönheit wirst du unter all den anderen aufgeputzten Damen angenehm auffallen. Die dezente Linie deines Kleides steht dir gut, auch wenn das eine oder andere Schmuckstück fehlt. Aber so sieht man wenigstens etwas von dir. Die meisten Frauen haben sich derart aufgeputzt, dass man mehr die Juwelen und die Kleider im Blickfeld hat, als die Person dahinter."

Beide lachten.

"Nun gut. Wenn du der Meinung bist, dass ich dich nicht blamiere. Aber eine Bitte habe ich, lass mich nicht allzu lange allein, sonst kann ich für nichts garantieren. Ich bin bekannt dafür, dass ich kein Fettnäpfchen auslasse, das meinen Weg kreuzt."

Er lächelte sie wohlwollend an.

"Dich aus den Augen lassen, Clarice? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich werde nicht das Risiko eingehen, dich an einen dieser säuselnden, schwerreichen Jünglinge zu verlieren, die sich zweifellos an deine Fersen heften werden, wenn ich nicht gut aufpasse. Ah, da sind wir schon. Vorsicht hinter der Türe befindet sich eine Treppe."

Der Portier grüßte sie Beide mit Respekt, öffnete ihnen die Türe in den Festsaal und Dr. Lecter blieb stehen, um Clarice als erste eintreten zu lassen. Die übrige Belegschaft des Hauses kannte ihn zur Genüge und so wurde ihnen umgehend ein Platz an einem der wenigen verfügbaren Tische zugewiesen.

Dr. Lecter trat hinter sie und schob Clarice den Stuhl hin. Sie setzte sich und er entschuldigte sich für einen Moment, um etwas zu trinken für sie beide zu besorgen.

Clarice war durch die Anwesenheit so vieler Menschen doch ein wenig eingeschüchtert. Auch wenn Dr. Lecter anderer Meinung war, sie fühlte sich an diesem Ort entsetzlich deplaziert. Andererseits war sie fasziniert von dem Ambiente und der illustren Gesellschaft, die sich an diesem Ort aufhielt. Irgendwie schienen sich alle hier auf die eine oder andere Weise zu kennen. Hin und wieder streiften interessierte und abschätzende Blicke den Neuling, aber Gott sei dank machte niemand den Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Als Dr. Lecter mit zwei Gläsern Champagner wieder zurückkehrte, atmete sie erleichtert auf. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die eine starke Schulter suchten, aber in diesem Moment war er für sie ein Fels in der Brandung. Wie üblich schien er genau zu wissen, was in ihr vorging, und er genoss ihre vorübergehende Hilfsbedürftigkeit offensichtlich.

"Wir bleiben nicht lange, Clarice. Im Prinzip geht es für mich nur darum Präsenz zu zeigen. Wir werden uns eine Kleinigkeit vom Buffet holen und im Anschluss daran fahren wir nach Hause. Bist du einverstanden?"

Sie nickte erleichtert.

"Gut, dann schlage ich vor du, gehst als erste hinüber. Ich werde in der Zwischenzeit hier auf dich warten, aber ich warne dich. Ich werde dich die ganze Zeit über im Blickfeld behalten. Und denk daran, keine näheren Kontakte zu anderen Männern. Ich bin heute Abend dein Begleiter und ich würde es nur ungern sehen, wenn sich andere Männer mit meiner Kostbarkeit schmücken."

Er zwinkerte ihr zu und sie musste lachen. Mit wie wenigen Worten es ihm doch gelang, sie aufzubauen und ihr den Rücken zu stärken. Inmitten dieser Überlegung streifte sie aber der kurze Hauch einer Erinnerung und sie dachte daran, dass er mit ebensolcher Leichtigkeit das Gegenteil erzielen konnte. Sie fröstelte leicht und schimpfte mit sich. Warum musste sie sich solche Momente immer mit ihrem Pessimismus verderben?

Aber nicht heute. Nein, sie würde diesen Abend genießen. Mit entschlossenen Schritten durchquerte sie den Saal und nahm begeistert das üppige Buffet in Augenschein, das sich vor ihr ausbreitete.

Sie war so mit der Auswahl der vor ihr aufgetürmten Köstlichkeiten beschäftigt, dass sie den gedankenversunkenen und begehrlichen Blick, mit dem Hannibal Lecter jede ihrer Bewegungen verfolgte, nicht bemerkte.

*****

"Hübsch die Kleine. Aber kaum repräsentabel für eine Veranstaltung dieser Kategorie. Ich hätte dir mehr Stil zugetraut als dein neuestes Bettspielzeug hierher mitzubringen."

Hannibal Lecter nippte in aller Seelenruhe an seinem Champagner, ehe er sich langsam zu Rachel DuBerry umdrehte. Er lächelte ihr freundlich zu und sagte,

"Guten Abend, Rachel. Was für eine Freude, dich hier zu sehen. Du siehst wirklich absolut umwerfend aus heute Abend. Sag mir, Rachel, hast du dein Gift bereits verspritzt oder muss ich mich auf eine öffentliche Szene gefasst machen?"

Rachel DuBerry kam näher. Immer der Gentleman bot er ihr einen Platz an und sie setzte sich. Sie war sich klar darüber, dass er Eifersucht aus ihrem Tonfall heraushören konnte, aber sie war viel zu verletzt, um sich darüber weitere Gedanken zu machen.

Hannibal Lecter war kein promiskuitiver Mann, aber er war auch kein Kostverächter. Er hatte sie nie darüber im Unklaren gelassen, dass es andere Frauen neben ihr geben könnte. Sie konnte das auch akzeptieren, solange er ihrer Konkurrentin nicht auf diese Weise nachblickte.

"Natürlich mache ich hier keine öffentliche Szene, Hannibal. Schon in meinem eigenen Interesse nicht. Ich hätte aber trotzdem gerne eine Antwort auf meine Frage von vorhin."

"Nun, die Antwort wird dir zwar nicht gefallen, Rachel, aber wenn du darauf bestehst. Das einzige meiner Bettspielzeuge, das heute Abend hier anwesend ist, bist du, meine Liebe."

Er beobachtete interessiert ihre Reaktion auf diese unterschwellige Beleidigung. Zu sagen, sie wäre schockiert gewesen, wäre eine echte Untertreibung. Er konnte sehen wie ihre Augen feucht wurden und sie um ihre Fassung rang. Sie brauchte einige Zeit bis sie sich von diesem Seitenhieb erholt hatte, aber dann streckte sie das Kinn nach vorne und sagte scharf,

"Du hättest ihr zumindest ein passendes Kleid kaufen können, Hannibal, aber dafür hättest du wahrscheinlich in der Kinderabteilung nachfragen müssen."

Er hob amüsiert eine Augenbraue und legte nachdenklich einen Finger an seine Lippen.

"Ach, Rachel, bist du wirklich so um den Schaden besorgt, den ihr Erscheinungsbild meinem Image bescheren könnte, oder nennen wir die Dinge beim Namen und stellen fest, dass du einfach nur eifersüchtig bist?"

Er beugte sich zu ihr nach vorne.

"Eine sehr unpassende Reaktion, meine Liebe, denn sie steht dir nicht zu. Ich habe dir nie irgendwelche Hoffnungen oder Versprechungen gemacht. Wir beide hatten bisher eine schöne Zeit im Bett miteinander, dass muss ich wirklich zugeben. Willst du die Erinnerung daran mit einem unwürdigen Abschluss trüben?"

Rachel DuBerry war es keineswegs entgangen, dass er von ihr in der Vergangenheit gesprochen hatte. Sie wusste, dass sie einen entscheidenden Fehler begangen hatte und er sie nun mit seinen Worten für ihre Anmaßung bestrafte. Und wie es schien, war er noch nicht fertig mit ihr.

Er lehnte sich wieder zurück, stellte das Champagnerglas ab und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

"Würde es dich trösten, wenn ich dir sage, dass es eine ganze Weile dauern wird, bis ich das Mädchen dort drüben so weit habe, dass sie ein adäquater Ersatz für dich in meinem Bett sein wird? Ja, in der Tat, ich werde viele Nächte dafür benötigen, um sie zu einer Geliebten nach meiner Fasson zu erziehen. Sie ist ein wenig rebellisch, musst du wissen. Eine echte Herausforderung."

Er beobachtete sein Gegenüber genau. Rachels Gesicht hatte mittlerweile eine recht ungesunde Blässe angenommen, aber sie wahrte ihre Fassung. Widerwillig musst er ihren Stil bewundern. Unter anderen Umständen hätte ihn diese Verhaltensweise wohlwollend gestimmt, aber nun nicht mehr. Erstaunt stellte er fest, dass er tatsächlich jegliches Interesse an ihr verloren hatte.

Sie schluckte krampfhaft, ehe sie zu einer Replik ansetzte.

"Nun, nach soviel Kaviar ist auch einmal ein Butterbrot ganz gut. Ruf mich an, wenn du wieder an erleseneren Genüssen interessiert bist."

Normalerweise hätte er ihr jetzt eine mehr als eindeutige Antwort gegeben, die sie davon abgehalten hätte, sich ihm jemals wieder zu nähern, aber aus irgendeinem Grund hatte er nicht das Bedürfnis, sie weiter zu verletzen. Obwohl sie eine Frau mit wenig Tiefgang war, hatte sie sein Leben doch immer wieder auf äußerst angenehme Weise bereichert.

"Rachel, wenn ich - um deine Worte zu verwenden - genug von meinem Butterbrot habe, dann bist du die erste, die es erfährt."

Er sah die Hoffnung in ihren Augen aufblitzen, aber er ignorierte ihre Gefühlsanwandlung. Sie war irrelevant.

Als sie aufstand, erhob er sich ebenfalls und küsste ihr zum Abschied noch einmal die Hand. Vielleicht, nur vielleicht, hatte er doch noch einmal eine Verwendung für sie.

Als Rachel DuBerry gegangen war, setzte er sich wieder und ließ seinen Blick erneut zu Clarice wandern. Sie hatte ihre Auswahl scheinbar getroffen und balancierte nun ihren randvoll beladenen Teller zwischen den Grüppchen herumstehender Menschen hindurch.

Er seufzte innerlich. Hier würde tatsächlich noch viel Arbeit auf ihn zukommen.

Normalerweise umgab sie ein Hauch von Ernsthaftigkeit und Schwere. Im Moment aber schien sie glücklich zu sein, sie strahlte geradezu von innen heraus und diese Stimmung teilte sich ihrer Umgebung mit. Sie war einfach entzückend.

Amüsiert beobachtete er die Blicke, die ihr gelegentlich von einigen Männern zugeworfen wurden, und er stellte fest, dass sie sich ihrer Anziehungskraft und Ausstrahlung offenbar überhaupt nicht bewusst war.

Clarice war tatsächlich nicht halb so gewöhnlich wie sie selber von sich annahm. Noch war sie jung und formbar und mit ein wenig Anleitung konnte sie sich durchaus entwickeln.

Butterbrot und Kaviar, in der Tat. Möglicherweise kann ich sogar Beides von ihr haben.

Mit diesem amüsanten Gedanken schloss Hannibal Lecter die Akte Rachel DuBerry in seinem Leben.

© 2003 by Lilith

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Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
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Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

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