Flash abspielen
Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
VARIANTE 1
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 1:

Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen
Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen

Kapitel 8: Erinnerungen und Erwartungen

Die Rückfahrt nach Charlottesville verlief in denkbar angenehmster Atmosphäre. Dr. Lecter referierte über die Qualität der Darbietung des Konzerts und erzählte ihr etwas über seinen Aufgabenbereich im Vorstand des Orchesters. Clarice Starling hörte ihm angemessen beeindruckt zu und lachte mit ihm gemeinsam über die sarkastischen Bemerkungen, die er über die, wie er es formulierte, "absolut indiskutable Leistung" des ersten Flötisten machte. In ihrem Hinterkopf hatte sie aber beinahe ein schlechtes Gewissen, weil ihr die unzureichende Darbietung des Flötisten noch nicht einmal aufgefallen war.

Als sie schließlich das Gelände der UVA wieder erreicht hatten, dachte Clarice bei sich, wie geschickt er es doch schaffte, peinliche oder langatmige Pausen in ihrer Konversation zu vermeiden. Er zeigte Interesse an ihren Gesprächsbeiträgen und amüsierte sich offenbar wirklich über einige ihrer Aussagen. Alles in allem war er der mit Abstand vielseitigste und interessanteste Gesprächspartner, an den sie sich erinnern konnte. Von ihrem Vater einmal abgesehen, aber der war ohnehin außen vor.

Bei dem Gedanken an ihren Vater legte sich ein trüber Schatten über ihre Seele. Wie viele Jahre ist es her, dachte sie bei sich, und ich bin immer noch nicht darüber hinweg? Nicht über ihn und auch nicht über die Nacht auf der Ranch in Montana. Warum kann ich nicht loslassen? Warum holen mich diese Erinnerungen immer wieder ein, sogar zu Zeiten wie diesen, wo ich eigentlich glücklich sein sollte?

"Schlechte Erinnerungen, Clarice?"

Die Stimme Hannibal Lecters riss sie aus ihrer Selbstversunkenheit. Sein Tonfall hatte nichts mitfühlendes an sich, wie sie mit Dankbarkeit registrierte. Er hatte lediglich eine Feststellung gemacht und diese dann in eine Frage verpackt. Obgleich Mitleid eine der Triebfedern ihres Seins war, war es keine Qualität, die Clarice schätzen konnte, wenn sie ihr entgegengebracht wurde.

Clarice versuchte die Andeutung eines Lächelns und wusste selber, dass es ihr kläglich misslang.

"Ja, aber es geht schon wieder."

"Wenn du darüber reden möchtest, dann gebe ich dir gerne meine Karte. Du brauchst dich allerdings nicht an die Öffnungszeiten meiner Praxis zu halten. Ich offeriere dir hiermit Carte blanche, das heißt, du darfst mich zu jeder Tages- und Nachtzeit in Anspruch nehmen. Ich muss gestehen, ich hätte dich nur zu gerne auf meiner Couch."

Clarice Starling hätte schon sehr unbedarft sein müssen, um die doppelte Bedeutung seiner Worte nicht zu verstehen, zumal er seine Worte mit einem beinahe schon unverschämten Grinsen unterstrich.

Sie entschied für sich, dass sie diese verspielte Stimmung an ihm mochte. Wieder eine neue Seite, die sie zu seiner nun doch schon recht ansehnlichen Liste an positiven Eigenschaften hinzufügen konnte. Aus einer Laune heraus beschloss sie mitzuspielen und konterte,

"Ich fürchte, Dr. Hannibal Lecter MD, ich bin nicht im Entferntesten in der Lage, mir auch nur eine einzige Stunde Ihrer kostbaren Arbeitszeit leisten zu können. Sie müssen wissen, das übersteigt meine finanziellen Kapazitäten bei weitem."

Es geschah nicht oft, dass jemand es wagte, ihm seine eigenen Worte unter die Nase zu reiben. Und es geschah noch seltener, dass ihn eine derartige Frechheit amüsierte. Erstaunlich. Sehr erstaunlich.

"Ich denke, wir finden da schon etwas, das du mir als Gegenleistung anbieten kannst."

Er sah kurz zu ihr hinüber und stellte befriedigt fest, dass sie bis unter die Haarwurzeln errötet war. Diese spontane und ehrliche Gefühlsäußerung befriedigte ihn tief, weil ihre Ursache nur zum Teil in den damit implizierten sexuellen Gefälligkeiten lag. Clarice Starling war ganz offensichtlich wütend. Ziemlich wütend sogar.

Clarice war eine sehr strukturierte Persönlichkeit, sodass einige ihrer Reaktionsweisen nach einem recht vorhersagbaren Schema abliefen. Andere wiederum... nun, er schätzte ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit durchaus. Es gab der ganzen Angelegenheit eine gewisse Würze. Wenn sie sich diese amüsante Mischung bewahren konnte, dann lag eine längerfristige Beziehung vielleicht wirklich im Bereich des Möglichen.

"Dr. Lecter, wenn Sie glauben..."

"Ich dachte, wir wären bereits beim Du angekommen, Clarice."

Dieser kurze Einwurf brachte sie scheinbar ein wenig aus der Fassung, daher setzte er für sie fort,

"Clarice, dein Mangel an Berechnung ehrt dich wirklich, aber wie ich schon einmal gesagt habe, ich halte dich nicht für eine Frau, die sich im Austausch für Gefälligkeiten hergibt. Es war ein kleiner Scherz, nichts weiter."

Das Erreichen des ihm zugewiesenen Parkplatzes vor dem Hintereingang des Instituts für Kriminologie, enthob Clarice der Verpflichtung ihm zu antworten. Dr. Lecter stellte den Wagen ab und bedeutete ihr zu warten. Danach stieg er aus und ging auf die Beifahrerseite, um ihr die Türe zu öffnen. Er streckte ihr die Hand hin und half ihr beim Aussteigen.

Als sie vor ihm stand, ließ er sie aber nicht gleich wieder los oder gab ihr einen so charmanten Handkuss wie beim letzten Mal. Er streichelte und massierte ihre Hand sanft zwischen seinen Fingern und blickte ihr erwartungsvoll in ihre Augen. Sie hatte sich offensichtlich wieder beruhigt und als keine abweisende Reaktion von ihrer Seite kam, zog er sie einfach in seine Arme.

Als er sie dabei beobachtete, wie sie als Antwort auf diese besitzergreifende Geste ihre Lippen erwartungsvoll mit ihrer Zunge befeuchtete, konnte er nicht länger widerstehen und neigte seinen Kopf. Als sich ihre Lippen unter den seinen schließlich bereitwillig öffneten, nahm er diese Einladung ohne zu zögern an.

Ihre Zungen fanden und liebkosten sich, neckten und umtanzten einander. Obwohl sie ihr Territorium behauptete, überließ Clarice ihm doch die Oberhand bei diesem ersten Kuss. Er forschte und schmeckte und er fand sie köstlich. Noch viel besser, als er erwartet hatte.

Mit leichtem Bedauern beendete er den Kuss, entließ sie wieder aus seiner Umarmung und beobachtete interessiert die Wirkung seiner Aktion.

Ihr verträumter Blick, ihre leicht geöffneten Lippen und ihre tiefen Atemzüge sprachen Bände. Clarice Starling war eine reife Frucht, die er nur noch pflücken musste. Bald, sagte er zu sich selber. Noch ist der Zeitpunkt ungünstig, aber bald.

Er dachte an den toten Studenten, der oben in seinem Büro auf seinen Abtransport wartete. Er dachte an die Qualität des Baltimore Philharmonic Orchestra und er rief sich noch eine andere Person in Erinnerung, mit der er in allernächster Zukunft eine besondere Begegnung haben würde.

Erst wenn alle diese Dinge erledigt waren und nur dann, konnte er seine ganze Aufmerksamkeit Clarice Starling widmen. Nein, es war besser, wenn sie den Abend auf diese Weise beendeten.

Einen Genuss aber wollte er sich noch gönnen und ihr damit gleichzeitig etwas geben, worüber sie in den nächsten Tagen nachdenken konnte. Einen Vorgeschmack auf künftige Vergnügungen sozusagen.

Hannibal Lecter nahm erneut ihre Hand und hob sie an seinen Mund, aber diesmal nicht, um ihr einen Kuss auf die Finger zu hauchen. Mit raubtierhafter Schnelligkeit schnappte er nach ihrem Zeigefinger, ließ ihn in seinen Mund gleiten, zog ihn wieder daraus hervor und spielte mit seiner Zunge und seinen Lippen daran herum. Clarice starrte ihn überrascht und gebannt an.

Urplötzlich und ohne Vorwarnung entzog sie ihm ihren Finger und stürzte sich auf ihn. Mit beiden Händen ergriff sie seinen Kopf und begann damit, ihn leidenschaftlich zu küssen. Die Vehemenz, mit der sie ihn an sich zog, brachte beide aus dem Gleichgewicht. Glücklicherweise federte der Wagen ihren Schwung ab und sie blieben einfach an ihn gelehnt stehen, Clarice das Seitenteil des Bentleys im Rücken und Hannibal Lecter über ihr. Sie grub ihre Hände in seine Haare und presste seinen Mund auf ihre Lippen, während er eine Hand auf dem Wagen abstützte und mit der anderen ihre Hüfte umfasste und sie heftig an sich zog.

Ihre Aggressivität überraschte und entzückte ihn gleichermaßen. Nun, da sie ihre Zurückhaltung offenbar aufgegeben hatte, gab auch er sich keinen Hemmungen mehr hin. Ihre Lippen und Zungen trafen heftig aufeinander, mit großer Intensität und Hitze. Die sinnlichen Bewegungen, mit denen sie ihren Körper bewegte, brachten ihn sehr schnell an den Rand seiner Beherrschung. Und auch sie war nicht mehr weit davon entfernt, alle Hemmungen von sich zu werfen. Er konnte ihre Bereitwilligkeit an der Art und Weise spüren, wie sich ihre Brust an der seinen hob und senkte und wie sie ihren Unterleib an seinem rieb.

Hätte sie nicht selber zugegeben, unberührt zu sein, hätte er in diesem Moment seine eigene Diagnose in Zweifel gezogen. So aber war die Entdeckung, dass in dieser nach außen hin so zurückhaltenden, introvertierten jungen Frau offensichtlich ein regelrechter Vulkan an Leidenschaften brodelte, nur noch eine Komponente, die ihn mehr zu ihr hinzog. Das hier war weder ein zartes hilfloses Opfer, noch eine nach Dominanz schreiende Frau. Zweifellos würde sie letztendlich seine führende Rolle akzeptieren, aber bis dahin würde sie ihm köstlichen Widerstand leisten.

Der Gedanke, wie sie seine Aggressivität mit ihrer eigenen beantworten würde, was für einen Kampf sie ihm bis dahin liefern würde, brachte ihn beinahe dazu, seine vielgerühmte Beherrschung zu verlieren.

Aber nur beinahe.

Mit eiserner Disziplin zwang er sich dazu, sich von ihrem Mund und ihrem Körper zu lösen und einige Schritte zurückzutreten. Schwer atmend standen sie sich gegenüber und warteten regungslos bis sich ihre Erregung wieder auf ein vernünftiges Niveau reduziert hatte. Trotzdem blieb die körperliche Anziehungskraft selbst über diese kurze Distanz hinweg beinahe schmerzlich spürbar.

Schließlich fuhr sich Dr. Lecter mit seiner Hand durch das Haar, um die Unordnung, die auf seinem Kopf entstanden war, wieder zu glätten. Clarice legte die Arme vor ihren Bauch und senkte den Kopf, um ihr verlegenes Lächeln zu verbergen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie sich im Freien befanden, wo jeder sie ungestört beobachten konnte.

Hannibal Lecter neigte den Kopf und betrachtete Clarice genau. Als nichts darauf hindeutete, dass sie ihren kleinen Rückfall so schnell überwinden würde, beschloss er, erneut das Risiko eines körperlichen Kontaktes einzugehen. Er trat wieder auf sie zu, ergriff mit Zeigefinger und Daumen ihr Kinn und hob ihren Kopf so weit an, dass er ihr in die Augen sehen konnte.

"Kein Grund dafür, sich zu schämen, Clarice. Manchmal brechen sich unsere unterschwelligen Wünsche und Bedürfnisse ziemlich plötzlich Bahn."

Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Autorücksitzes.

"Nun, zumindest haben wir uns soweit unter Kontrolle gehabt, dass wir uns nicht auf dem Rücksitz dieses Autos wiedergefunden haben."

Diese Bemerkung reizte Clarice zum Lachen, obwohl sie sie eigentlich gar nicht so besonders komisch fand. Ihre Nerven waren durch die Geschehnisse der letzten Minuten offensichtlich ziemlich überreizt.

Auch Dr. Lecter kam zu demselben Schluss. Nun war wirklich der Zeitpunkt gekommen, um diesen Abend zu beenden.

"Clarice. Heute Abend ist nicht der richtige Zeitpunkt. Und zu meinem Bedauern werde ich auch in den nächsten Tagen nicht die Zeit haben, um dir die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die ich für angemessen halte...."

Er spürte wie sich ihr Körper versteifte.

"Nein, Clarice. Das hat nichts mit dem zu tun, was gerade passiert ist. Glaub mir, ich würde nichts lieber tun, als mich dir vollkommen zu widmen, aber ich bin in der nächsten Woche beruflich einfach etwas angespannt. Aber ich verspreche dir, danach werde ich soviel Zeit für dich erübrigen, wie ich nur kann."

"Wann werde ich dich wiedersehen?"

"Ich weiß nicht genau. Nächstes Wochenende möglicherweise. Ich habe zwar am Samstagabend den Vorstand des Philharmonic Orchestra zu einer kleine Soiree geladen. Aber das sollte nicht den ganzen Abend in Anspruch nehmen und danach..."

Clarice lächelte ihn an.

"Ja, du hast recht. Ich habe in der nächsten Woche auch einiges zu regeln. Ich muss Jack Crawford davon überzeugen, dass er mich trotz deiner grandiosen Benotung zur Abschlussprüfung antreten lässt."

Hannibal Lecter ignorierte ihren Sarkasmus und küsste sie zum Abschied zart auf ihre Stirn.

"Mach dir darüber keine Gedanken, meine Liebe. Es wird sich bestimmt eine Lösung finden, da bin ich mir sicher. Bis nächste Woche also. Und denk daran, Clarice, ich habe dir Carte Blanche versprochen. Es gibt auch Telefone."

"Bis nächste Woche. Ich werde dich im Lauf der nächsten Woche einmal anrufen."

"Ich hoffe darauf. Gute Nacht."

"Gute Nacht."

Er sah ihr nach, bis ihre Silhouette zwischen den Bäumen verschwunden war. Danach widmete er sich wieder den Angelegenheiten, die vor ihm lagen. Zum Beispiel: Wo er zu dieser nächtlichen Stunde noch jemanden auftreiben konnte, der ihm dabei half, den schweren Koffer mit seinen "persönlichen Angelegenheiten" in den Kofferraum seines Bentleys zu verfrachten.

*****

Ein Sprichwort sagt, man solle Gott dankbar sein für die kleinen Gefälligkeiten. Der Tag, der diesem denkwürdigen Rendezvous mit Dr. Lecter folgte, war so eine Gefälligkeit für Clarice, denn es war ein Sonntag und somit ein Tag ohne besondere Verpflichtungen für sie. Zeit, die sie dringend benötigte, um wieder zu sich zu finden.

Als sie sich von Hannibal Lecter auf dem Parkplatz verabschiedet hatte, ging sie ohne weiteren Umweg zurück in ihr kleines Zimmerchen im Studentenwohnheim, zog ihr geborgtes Kleid aus und hängte es sorgfältig an einen Haken. Im Anschluss daran, duschte sie sich noch in der Gemeinschaftsdusche, kämmte sich das Haar, bürstete die Zähne und zog sich ihren Pyjama an. Danach stellte sie noch wie jeden Abend eine Flasche Wasser neben sich, ehe sie sich in ihr Bett legte und das Licht ausmachte.

Als sie alle um diese Nachtzeit machbaren, alltäglichen Routinen hinter sich gebracht hatte und schließlich in ihrem Bett lag, konnte sie die seltsame Stimmung irgendwo zwischen Euphorie und Verzweiflung, die sie ausfüllte seit sie ihren gutaussehenden Begleiter auf dem Parkplatz verlassen hatte, nicht länger zurückdrängen.

Wenn sie allerdings ehrlich zu sich selber war, dann musste sie sich eingestehen, dass sie ihren gegenwärtigen Gefühlszustand nicht einmal annähernd ausloten konnte. Die unterschiedlichsten Emotionen und sinnlichen Eindrücke der vorangegangenen Stunden schienen sich in ihrem Inneren zu einem unentwirrbaren Chaos zu vermischen, sobald ihre Gedanken zu Hannibal Lecter wanderten.

Der Gedanke daran, wie der Mann, der vermutlich ihr erster Liebhaber sein würde, sie den ganzen Abend lang hofiert hatte, durchzuckte sie siedend heiß, nur um dem nagenden Gefühl Platz zu machen, dass er sie vielleicht sofort wieder fallen ließ, wenn er erst bekommen hatte, was er so offensichtlich von ihr wollte. Und was sie ihm in dieser Nacht ebenso eindeutig wie freizügig angeboten hatte.

Was findet er nur an mir, dachte sie bei sich, als ihr das demütigende Gefühl, sich in gewissen Momenten wirklich wie eine unbedarfte Landpomeranze verhalten zu haben, beinahe die Kehle zuschnürte. Sie hatte heute Abend genügend Frauen gesehen, die in jeder Hinsicht mehr seiner Kategorie und Klasse entsprachen.

Clarice Starling hatte keine Illusionen über ihre eigene Abstammung, die sie als wirklichen Makel empfand. Dieser kleine Kratzer an ihrem ansonsten recht gut ausgebildeten Selbstbewusstsein, dieser kleine Zweifel über ihre eigenen diesbezüglichen Qualitäten, nagte an ihr mit unverminderter Härte. Einer Härte, die sie selten wirklich bewusst wahrnahm, die aber mit ebensolcher Effizienz in ihrem Inneren arbeitete, wie ein sich langsam drehender Mahlstein.

Hatte sie heute Dummheiten von sich gegeben, die er als perfekter Gentleman geflissentlich übergangen hatte? Hatte sie ihn gelangweilt? Ihn abgestoßen mit ihrem unbeherrschten Verhalten? Möglicherweise bevorzugte er fügsame Frauen und hatte ihren fordernden Kuss als unangebracht empfunden. Vielleicht zog er eine intimere Bekanntschaft nach ihrer impulsiven Reaktion gar nicht mehr in Betracht.

Bei diesem Gedanken spürte Clarice einen ziehenden Schmerz in der Brustgegend und es war kein geringer Schock für sie, als ihr mit erschreckender Deutlichkeit bewusst wurde, wie sehr SIE ihn mittlerweile wollte.

Sie empfand ihr Verhalten früher an diesem Abend nun beinahe als schamlos und krümmte sich innerlich bei dem Gedanken, wie diese kleine Szene weitergegangen wäre, wenn er sich nicht dazu veranlasst gesehen hätte, ihr Rendezvous an diesem prekären Punkt zu beenden.

Andererseits hatte er ihr auch das Gefühl gegeben, wirklich begehrenswert zu sein. Er hatte sie stilvoll ausgeführt und behandelt, als wäre sie tatsächlich bereits seine Geliebte. Ein Objekt seines Begehrens.

Clarice kannte immerhin genug vom Leben um zu wissen, dass bei einem derartig anspruchsvollen Mann wie Hannibal Lecter ein solches Verhalten durchaus als ernsthaftes Interesse gedeutet werden konnte.

Letztendlich war es dieser Gedanke, der ihr blieb und der alle anderen überdeckte. Immer wieder durchlebte sie in Gedanken die Geschehnisse auf dem Parkplatz und die sinnliche Erregung, die er durch seine erotischen Spielchen in ihrem Körper hervorgerufen hatte.

Sie hatte das Gefühl, sich in einem statischen Feld zu befinden, so stark reagierte ihr Körper auf die bloße Erinnerung an seine Berührungen. Das prickelnde Gefühl, das sich immer wieder in ihrem gesamten Körper ausbreitete, wenn sie an ihren gutaussehenden Begleiter dachte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen, und sie fand in ihrem aufgereizten Zustand zwischen Wachen und Schlafen keinen Frieden. Erst in den frühen Morgenstunden siegte schließlich die Erschöpfung und Clarice Starling sank endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Aber es war ein Schlaf, der sie nicht erfrischte, und als sie schließlich am späten Vormittag wieder erwachte, fühlte sich ihr Körper ausgelaugt und ihr Kopf so schwer an, als hätte sie am Abend zuvor zuviel getrunken.

Sie brauchte in der Tat den ganzen Sonntag dafür, um sich wieder so zu regenerieren, dass sie ihre Gedanken halbwegs wieder auf andere wichtige Dinge konzentrieren konnte. Mit Erstaunen nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Karriere, die ihr vor einigen Tagen doch noch so wichtig gewesen war, nun deutlich an Bedeutung verloren hatte. Clarice Starling war aber realistisch genug, um über diesen momentanen Unwillen hinwegzusehen und ihre eigentliche Zukunft nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Eine Zukunft ohne Hannibal Lecter, dessen war sie sich sicher.

Sie war auch realistisch genug, um den seltsam melancholischen Schmerz, der sich bei diesem Gedanken in ihrer Brust breit machte, entschieden von sich wegzuschieben. Clarice Starling war aber dennoch zu unerfahren auf dem minenübersäten Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen, um zu realisieren, wie sehr sie sich bereits an die Grenze zur Verliebtheit herangetastet hatte.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
Keine Verletzung von Urheberrechten ist beabsichtigt.

© HopkinsVille. All rights reserved.
www.hopkinsville.de

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 1:

Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen
Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen