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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
VARIANTE 1
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 1:

Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen

Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen

Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche

Am Montagmorgen wurde Clarice dann von der Institutsleitung für Kriminologie telefonisch mitgeteilt, dass Jack Crawford noch am selben Vormittag ein Gespräch mit ihr führen wollte. Diese Aufforderung ließ Clarice nur wenig zeitlichen Spielraum um sich zurechtzumachen und verwirrte sie darüber hinaus einigermaßen. Clarice hätte ihn zwar ohnehin an einem der nächsten Tage aufsuchen müssen, aber dass er von sich aus das Gespräch suchte, verursachte bei ihr ein mulmiges Gefühl. Zumal er sie ja gar nicht persönlich kannte. Sie konnte diese Aufforderung nicht recht einschätzen und beeilte sich daher, rechtzeitig zu ihrem Termin zu kommen.

Als sie kurz darauf im Institutsgebäude vorsprach, verwies man sie an sein Büro. Die Türe war nicht verschlossen. In ihrer Nervosität vergaß sie anzuklopfen und trat einfach durch die geöffnete Türe, nur um zu bemerken, dass Jack Crawford gerade ein Telefongespräch führte. Er registrierte ihr Eintreten, hob noch während er sprach grüßend seine Augenbrauen und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Sie antwortete mit einem leichten Lächeln und kam seiner Aufforderung nach.

Das Telefongespräch schien nicht besonders erfreulich zu sein, denn Crawford beendete es schließlich relativ abrupt und richtete endlich seine Aufmerksamkeit auf sie. Für einen Sekundenbruchteil hegte sie die Befürchtung, dass er seine offensichtlich schlechte Stimmung vielleicht auch auf sie übertragen würde, aber sie entnahm seinem Tonfall nur eine Art höfliches Interesse.

"Starling, Clarice M., guten Morgen."

"Hallo", antwortete Clarice und versuchte höflich zu lächeln.

"Miss Starling, ich glaube, Sie haben bereits eine gewisse Vorstellung davon, warum ich Sie zu mir gebeten haben könnte", fuhr er mit demselben geschäftsmäßigen Tonfall fort. "Die Bewertungen sind zwar noch nicht offiziell ausgehängt worden, aber ich denke, eine Diskussion bezüglich Ihrer Zulassung zu meiner Abschlussprüfung wäre doch angebracht."

Er machte eine Pause und schien sie zu beobachten, ganz so, als ob er eine bestimmte Reaktion erwarten würde. Als keine kam, sprach er weiter.

"Sie wissen, dass mir eine Zwei Minus nicht genügt, um Sie zum Abschlusstest antreten zu lassen, Miss Starling. Dennoch wurde mir empfohlen, in Ihrem Fall eine Ausnahme zu machen. Ich denke, wir beide wissen genau, um wen es sich bei Ihrem Fürsprecher handelt."

Crawford ließ die unterschwellige Bedeutung seiner Worte auf sie wirken. An der Art und Weise wie sich ihre Pupillen erweiterten, konnte er erkennen, dass sie seine versteckte Botschaft diesmal verstanden hatte.

"Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass ich in keinster Weise die Verpflichtung habe, dieser Empfehlung stattzugeben. Trotzdem war Ihr Fürsprecher überzeugend genug, sodass ich noch andere Stellungnahmen über Sie eingeholt habe. Meine Recherchen haben Dr. Lecters diesbezüglichen Auffassungen überzeugend bestätigt. Ihre übrigen Noten sind erstklassig und auch bezüglich Ihres Arbeitseifers gibt es keinen Anlass zur Beschwerde. Also, sagen Sie mir, was soll ich nun mit Ihnen machen, Miss Starling?"

Sie brauchte einen Moment um sich zu sammeln.

"Mr. Crawford, darf ich ehrlich zu Ihnen sprechen?"

"Ich bitte darum."

Sie blickte ihn mit ihren herrlichen wasserblauen Augen offen an und hoffte, dass sie genug Überzeugungskraft in ihre Stimme legen konnte.

"Ich würde es vorziehen, mit Leistung zu überzeugen und nicht durch die Fürsprache anderer Personen. Wenn Sie der Meinung sind, dass ich aufgrund meiner Note in Dr. Lecters Kurs keine Zulassung zu Ihrer Abschlussprüfung erhalten sollte, dann ist das in Ordnung. Was ich nicht möchte, ist eine Zulassung, die mich dem Verdacht aussetzt, meine Erfolge bestimmten Gefälligkeiten gegenüber meinen Vortragenden zu verdanken."

Ihre letzten Worte waren schärfer formuliert, und auch ihr ländlicher Akzent war verstärkt hervorgetreten. Für Crawford ein Indiz, dass sie ihre Worte auch wirklich so meinte, wie sie ausgesprochen worden waren. Sein höfliches Lächeln bekam einen weicheren Unterton.

"Miss Starling, ich schätze es, wenn man mir direkt begegnet. Also werde ich Ihnen genauso direkt antworten. Ich habe in Ihrem Fall keine Veranlassung zu vermuten, dass Sie sich Ihre Fürsprache durch unangemessene Vertraulichkeiten erschlichen haben. Dr. Lecter und ich haben unsere Differenzen, das möchte ich nicht ableugnen, aber ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass er seine Meinung in keinster Weise von eventuellen Gefälligkeiten seiner Studentinnen beeinflussen lässt. Diesbezüglich sind Sie also über jeden Verdacht erhaben."

Ihre Erleichterung war so offensichtlich, dass er seine Erheiterung nur mit Mühe verbergen konnte.

"Danke, Mr. Crawford, aber Sie verstehen sicher, dass man solchen Gerüchten nicht entschieden genug entgegentreten kann. Ich persönlich ziehe eine leistungsbezogene Beurteilung in jedem Fall vor und würde es als unerträglich empfinden, als gefällige Person abgestempelt zu werden."

"Natürlich, Miss Starling, ich verstehe Sie sehr gut. Nun da wir das geklärt haben... Sie haben mir immer noch nicht meine Frage von vorhin beantwortet. Was soll ich nun mit Ihnen machen?"

Clarice atmete tief durch. Ihre nächsten Worte würden vermutlich große Auswirkungen auf ihre unmittelbare und fernere Zukunft haben.

"Können Sie eine Zulassung denn vor sich selber verantworten?"

Crawford musste unwillkürlich grinsen. Das Mädchen war clever und frech genug, um ihm den Ball wieder zuzuspielen. Sie gefiel ihm von Minute zu Minute besser und er begann langsam eine Vorstellung davon zu bekommen, warum Dr. Lecter seine Meinung bezüglich dieses Mädchens revidiert haben könnte. Ein rares Vorkommnis, in der Tat. Er beschloss, ihr trotz durchaus vorhandener Bedenken seinen Sanctus zu geben, obwohl er bekannt dafür war, im allgemeinen keine Ausnahmen zu machen.

"Wenn ich die Meinungen der anderen Personen bezüglich Ihrer Leistungen berücksichtige, dann denke ich, dass ich es vertreten kann", sagte er.

Sie konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. Unbeeindruckt von diesem leichten Gefühlsausbruch, beugte er sich nach vorne und setzte nach,

"Ich würde allerdings zu gerne wissen, was Sie in dieser ominösen Seminararbeit geschrieben haben, um Dr. Lecter zu einer derartigen Bewertung zu veranlassen. Er hat sich mir gegenüber nicht näher darüber geäußert und erwähnte lediglich einen – wie nannte er es doch gleich – "ausgesprochen unorthodoxen Ansatz". Vor allem aber würde ich gerne wissen, wieso er seine Meinung diesbezüglich geändert hat."

Clarice blickte ihn erstaunt und erleichtert an. Erstaunt, weil ihm offensichtlich weder Dr. Lecter, noch Will Graham von ihrer Theorie erzählt hatten. Erleichtert, weil Jack Crawford nichts Genaues über ihren peinlichen Schnitzer wusste. Wenn es nach ihr ging, dann konnte es auch ruhig dabei bleiben.

"Ich würde diese ganze Sache lieber nicht mehr allzu sehr strapazieren, Mr. Crawford. Ich weiß heute selber nicht mehr, was mich damals auf einen solchen Unsinn gebracht hat. Ehrlich gesagt ist es mir wirklich peinlich, dass ich diese Arbeit überhaupt abgegeben habe."

Crawford seufzte und lehnte sich wieder in seinem Drehsessel zurück. Obwohl ihm ihre versteckte Abweisung nicht entgangen war, schien er sie in diesem Punkt nicht drängen zu wollen. Clarice hatte plötzlich das Gefühl, ihm eine Erklärung zu schulden.

"Dr. Lecter hat mich zu einem persönlichen Gespräch zu sich bestellt und mir die Möglichkeit gegeben, meinen Standpunkt darzustellen. Ich bin selber überrascht, dass er sich in dieser Sache nun für mich eingesetzt hat, zumal er mir gegenüber erwähnte, dass er seine Benotung keinesfalls revidieren würde."

Sie wusste, dass sie Crawford genau genommen belog, aber sie beruhigte sich mit der Tatsache, dass sie ja nicht wirklich gelogen, sondern die Ereignisse nur etwas vereinfacht dargestellt und einige unwesentliche Dinge unter den Tisch hatte fallen lassen. Sie bezweifelte stark, dass Crawford Beziehungen zur Baltimorer High Society hatte, die ihm ihr kleines Rendezvous mit Dr. Lecter zutragen würden. Sie bezweifelte überhaupt, dass die Baltimorer High Society auch nur einen einzigen Gedanken an sie verschwendete.

Diesbezüglich beruhigt, blickte sie Crawford offen ins Gesicht.

"Darüber hinaus habe ich die Arbeit gar nicht mehr, Mr. Crawford, aber wenn ich sie jemals wieder in die Hand bekommen sollte, dann werde ich mir die ganze Sache noch einmal überlegen, das verspreche ich Ihnen."

Ich werde es mir überlegen und das ganze Machwerk dann sofort vernichten, bevor noch irgend eine weitere Person diese Peinlichkeit zu Gesicht bekommt, dachte sie bei sich.

Plötzlich fiel ihr siedend heiß ein, dass sie mit Will Graham diesbezüglich noch einmal telefonieren und um Rückgabe ihrer Arbeit bitten sollte. Ganz offensichtlich hatte er sich noch nicht damit auseinandergesetzt, denn sonst hätte Crawford wohl Bescheid gewusst. Oder er fand die Theorie zu abstrus, um sie auch nur zu erwähnen.

"Ich würde mich darüber freuen, Miss Starling. Nun, dann denke ich, wären wir soweit fertig. Sie bekommen Ihre Zulassung zur Abschlussprüfung. Ich würde aber die Tatsache, dass ich in Ihrem Fall eine Ausnahme gemacht habe, in Ihrem eigenen Interesse nicht gleich überall herumerzählen."

"Nein, Mr. Crawford, das werde ich mit Bestimmtheit nicht machen."

"Gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Miss Starling."

"Den wünsche ich Ihnen auch, Mr. Crawford."

Sie stand auf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ehe sie sich umdrehte um zur Türe zu gehen.

*****

Als die junge Frau gegangen war, verweilte Jack Crawfords Blick noch eine ganze Weile auf der Türe, die sich gerade hinter ihr geschlossen hatte. Im Grunde genommen froh um jede noch so kurze Angelegenheit, die seine Gedanken ein wenig von den Überlegungen bezüglich seiner im Sande verlaufenden Ermittlungen ablenkte, musste er bei sich selber zugeben, dass Miss Starling sein Interesse geweckt hatte. Sie und der Inhalt der Arbeit, die Dr. Lecter zu dieser eigenartigen Beurteilung einer ansonsten herausragenden Studentin veranlasst hatte.

Und auch die Art und Weise, wie sie Dr. Lecter wohl dazu bewogen hatte, sich persönlich mit ihm in Verbindung zu setzen, um ihr doch noch eine Zulassung zur Abschlussprüfung zu ermöglichen. Dr. Hannibal Lecter, der bekannt dafür war, nicht besonders viel Geduld mit Menschen zu haben, die seinen hohen Anforderungen nicht entsprachen.

Im Grunde genommen spielte es gar keine Rolle, ob sie im Austausch dafür zu irgendwelchen Gefälligkeiten bereit gewesen war. Jack Crawford wusste von keinem einzigen Fall, in dem der gute Doktor seine Meinung von beruflichen oder freundschaftlichen Verpflichtungen gleich welcher Art beeinflussen hätte lassen. Tatsächlich war seine Fähigkeit zu einer hochgradig objektiven Betrachtungsweise genau einer der Gründe, warum er sich als Sachverständiger einen so guten Namen gemacht hatte.

Nun, objektiv betrachtet konnte man nicht abstreiten, dass es sich bei Clarice Starling um eine sehr attraktive junge Dame handelte. Crawford war ausgesprochen glücklich verheiratet und allein dieser Fakt hinderte ihn daran, diesen Gedanken über ein gewisses Maß hinaus zu verfolgen.

Ihr hübsches Gesicht und ihre ansprechende Figur waren aber nicht die einzigen Qualitäten, die sie für sich in Anspruch nehmen konnte. Darüber hinaus zeigte sie eine wache Intelligenz und sie war von Grund auf ehrlich. Er persönlich schätzte solche Qualitäten bei Frauen durchaus, da er sie auch bei seiner eigenen Frau wiederfand, aber er wusste auch, dass Miss Starling in der Schlangengrube des Bureaus genau diese Eigenschaften enorme Schwierigkeiten einbringen konnten. Es gab in dieser Institution genügend Männer in den mittleren und oberen Positionen, die nicht über ihr hübsches Gesicht hinaussehen und ihr jeden erreichten Rang und jede Leistung streitig machen würden.

Außerdem hätte er ihre Arbeit wirklich gerne gelesen, aber er bezweifelte irgendwie, dass er in den Genuss dieser Lektüre kommen würde. Miss Starling hatte nicht sehr überzeugt gewirkt, als sie ihm versprochen hatte, sich die ganze Sache noch einmal zu überlegen. Nun, vielleicht war es ja auch besser so. Er hatte wirklich dringlichere Angelegenheiten, um die er sich kümmern musste.

Nach Wills Besprechungen mit Dr. Lecter hatten sich die Ermittlungen zwar in eine ganz bestimmte Richtung entwickelt, aber Crawford war absolut nicht davon überzeugt, dass diese Richtung zielführender war, als all die anderen Sackgassen, in die sie bei den Ermittlungen zum Fall "Chesapeake-Ripper" bereits geraten waren.

Er seufzte, konzentrierte seine Energien wieder auf das Wesentliche und widmete sich wieder der Akte, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

*****

Nach dem überaus erfreulichen Gespräch bei Jack Crawford, verbrachte Clarice den Rest des Montags und die nächsten beiden Tage fast ausschließlich in der Bibliothek oder im Hörsaal, um sich für die Abschlussprüfung optimal vorzubereiten. Es war nicht nur persönlicher Ehrgeiz, der sie zu diesem Lernmarathon anspornte, oder die Angst vor einer ungewissen Zukunft bei einem Versagen.

Im Grunde genommen zweifelte sie nicht eine Sekunde daran, dass sie die Prüfung schaffen würde. Nein, sie hatte vor allem das Gefühl, den beiden Männern, die an dieser Prüfung so maßgeblich beteiligt gewesen waren, etwas schuldig zu sein. Im Falle von Jack Crawford, weil er sie trotz seiner Bedenken zugelassen hatte, und im Falle von Dr. Hannibal Lecter... nun, in seinem Fall kam zu der unverhofften Fürsprache noch eine etwas andere Komponente hinzu.

Clarice entdeckte in den wenigen Stunden, in denen sie ihr Gehirn nicht mit Paragraphen und Fallbeispielen beschäftigt hielt, wie sehr sie trotz ihrer kurzen Bekanntschaft bereits seine Gegenwart vermisste. Die interessante Konversation, mit der er sie unterhalten hatte, die Aufmerksamkeit, die er ihr gewidmet hatte, seine Stimme, die ihr Komplimente gemacht hatte, seine Umarmungen und Zärtlichkeiten. In den fiebrigen Nachstunden nach ihrem Rendezvous hatte sie sich geschworen, frühestens in der zweiten Hälfte der Woche bei ihm anzurufen. Das war sie ihrem Stolz einfach schuldig, auch wenn ihr dieser Stolz keine schöne Zeit bereitete.

Sie verstand, dass es nun an ihr war, Kontakt aufzunehmen. Er hatte ihr ihre eigene Zeit zugestanden und er hielt sich an sein Versprechen.

Umso verwunderter war sie, als sie am Mittwochabend, nach einem neuerlich sehr ausgiebigen Lern- und Studiertag in der Bibliothek, wieder nach Hause zurückkehrte und ihr eine ihrer Kommilitoninnen einen Brief aushändigte, der am frühen Nachmittag für sie abgegeben worden war.

Auf dem Umschlag stand nur ihr Name, aber das teure Büttenpapier, das ungewöhnliche Wachssiegel, vor allem aber die unglaublich akkurate Schrift verrieten den Verfasser sofort. In ihrer Ungeduld brachte sie es gerade noch fertig, Mantel und Stiefel auszuziehen, ehe sie sich auf das Bett fallen ließ und den Brief öffnete.

Es stand nicht viel darin geschrieben, aber es brachte ihre Augen zum Leuchten, als sie sich auf den Rücken drehte und gedankenversunken an die Decke blickte.

*****

"Er möchte, dass Sie zu ihm hineingehen, Miss. Ich habe Anweisungen, Sie sofort zu ihm vorzulassen, wenn Sie eintreffen würden."

Der kritische Blick der Sekretärin machte unmissverständlich klar, dass sie Dr. Lecters Entscheidung missbilligte. Clarice war aber diesmal viel zu gut gelaunt, um den abwertenden Blick allzu tragisch zu nehmen und dachte amüsiert daran, wie missbilligend Thelmas Blick erst gewesen wäre, wenn sie gewusst hätte, was sich da zwischen ihrem hochverehrten Arbeitgeber und der unmöglich angezogenen jungen Frau, die da vor ihr stand, anbahnte.

Als sie sein Büro betrat, war sie sofort wieder gefangen von der Stimmung, die dieser Raum ausstrahlte. Sie schloss daher für einen kurzen Moment ihre Augen, ehe sie sich dazu zwang, sie wieder zu öffnen und in seine Richtung zu blicken. Hannibal Lecter saß an seinem Schreibtisch und lächelte ihr zu.

"Clarice, wie schön. Ich habe dich bereits erwartet. Wir haben zwar nicht viel Zeit, aber... komm her zu mir und setz dich."

Für einen flüchtigen Moment musste Clarice an ihre erste Begegnung an diesem Ort zurückdenken und wie sehr er sich doch von der heutigen Situation unterschied, obwohl sich äußerlich nicht viel daran geändert hatte. Sie badete in seinem Lächeln und musste plötzlich schlucken, als sie bemerkte, dass ihr Mund trocken geworden war.

Mit wenigen Schritten überwand sie die Distanz zwischen ihnen beiden und schob sich den Stuhl vor seinem Schreibtisch zurecht.

"Ich sagte, du sollst zu mir kommen und dich setzen, Clarice... damit meinte ich nicht den Stuhl." Hannibal Lecter lachte.

Clarice sah ihn an und wusste nicht so recht, worauf er hinauswollte. Aber sie gehorchte, legte ihre Tasche auf dem Sessel ab und umrundete den Schreibtisch. Noch während sie ging, drehte er sich mit seinem luxuriösen Ledersessel zu ihr. Als sie vor ihm stand, zog er sie sich mit einer bestimmten Bewegung auf seinen Schoß.

Die plötzliche und unverhoffte Intimität dieser Position machte es ihr schwer zu atmen. Seine unmittelbare Nähe, der Geruch seines After Shave... seine kräftigen Oberschenkel und seine muskulöse Brust unter dem makellos weißen Hemd, an die er sie gezogen hatte, setzten ihr doch einwenig zu. Er setzte sich in seinem Sessel zurück und legte eine Hand um ihre Hüfte, um sie festzuhalten. Sie beschloss, mitzuspielen, rutschte ebenfalls in eine bequeme Position und legte nach einem kurzen Moment der Verlegenheit einen Arm um seine Schultern.

Unbewusst hob und senkte sich ihr Brustkorb stärker als gewöhnlich und presste ihre Brüste reizvoll gegen ihre weiße Bluse. Ihre Brustwarzen hatten sich verhärtet und aufgerichtet und waren deutlich durch die Spitze ihres BHs sichtbar. Hannibal Lecter beobachtete zufrieden die Wirkung, die er auf das Objekt seines Interesses hatte, und bedauerte nun ernsthaft, dass er an diesem Tag nicht mehr Zeit mit ihr verbringen konnte. Nicht nur sie war mehr als bereit dafür, ihre Beziehung auf einen höheren Level anzuheben.

Aber das hieß ja nicht, dass man sich nicht schon einen Vorgeschmack auf zukünftige Freuden holen konnte. Noch ehe sie reagieren konnte, hatte er ihren Kopf zu sich gezogen und küsste sie leidenschaftlich. Wie erwartet antwortete sie nach einem Moment der Überraschung mit derselben Leidenschaft und Hitze, die auch er in diesen Kuss einbrachte.

Als er mit seiner Hand zart an ihrem Oberschenkel hoch strich, öffnete sie unbewusst ein wenig die Beine. So dezent diese willige Reaktion ihrerseits auch war, sie erregte ihn ungemein, sodass er für einen Sekundenbruchteil in Erwägung zog, sie hier und jetzt zu nehmen. Aber er hielt sich eisern unter Kontrolle. Hannibal Lecter wusste was er seinem Ruf als Liebhaber schuldig war. Er würde Clarice Starling für ihre erste sexuelle Begegnung einen würdigen Rahmen verschaffen und er würde ihr all die Zeit widmen, die ihr dafür zustand.

Trotz seiner nach außen hin zur Schau gestellten Beherrschtheit, konnte er doch die Reaktionen seines Körpers nur bedingt kontrollieren. Sie stöhnte leise auf, als sie das Zeichen seiner Erregung spürte.

Dr. Lecter hielt es nach dieser angenehmen und erregenden Begrüßung für besser, den Kuss zu beenden, und entzog sich ihr langsam aber bestimmt. Clarice leistete keinen Widerstand, legte aber zu seiner Überraschung in einer Geste völligen Vertrauens ihren Kopf an seine Schultern. Für eine kurze Weile lang sagte keiner von beiden etwas. Er genoss einfach das Gefühl ihres Körpers an dem seinen und vertiefte sich in den Duft ihrer Haare.

Für Hannibal Lecter war der Geruchssinn ein besonderes, sinnliches Instrumentarium. Entsprechend stark bestimmten geruchliche Wahrnehmungen seine innere Welt. Clarice benutzte ein Shampoo mit Veilchenduft. Zu süß, dachte er sich. Zu süß und zu blumig für ihren Typ. Herbere, sportlichere Düfte passten besser zu ihr.

Er liebte es einzukaufen und er war ein außerordentlich großzügiger Mann, wenn es um Geschenke für eine Frau ging, die er seine Aufmerksamkeit für wert befunden hatte. Außerdem zeugten seine Geschenke immer von erlesenem Geschmack. Dr. Lecter genoss den Gedanken daran, ihre Anlagen diesbezüglich zu schulen und mit ihr zusammen ausgiebige Einkäufe zu machen.

Schließlich hob Clarice den Kopf wieder von seiner Schulter und blickte ihn an. Er konnte ein freches Funkeln in ihren Augen erkennen.

"Ich glaube deine Sekretärin macht sich so ihre Gedanken, warum du soviel deiner wertvollen Zeit an eine unbedeutende, vorlaute Studentin verschwendest", bemerkte sie.

Er küsste sie zart auf die Stirn und strich ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Diskretion, meine Hübsche, ist alles. Und genau aus diesem Grund habe ich dich hierher gebeten. Hier habe ich etwas für dich", damit griff er zur Seite, zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen Schlüssel daraus hervor. "Das hier ist der Schlüssel zu meiner Stadtwohnung in Baltimore. Gerade eben im Hinblick auf Diskretion ist es absolut notwendig, dass wir es von nun an vermeiden, allzu oft zusammen auf dem Universitätsgelände oder hier in meiner Praxis gesehen zu werden."

Sie nahm den Schlüssel aus seiner Hand und blickte ihn mit leuchtenden Augen an.

"Warum fahre ich nicht mit meinem eigenen Wagen zu dir und du öffnest mir einfach deine Türe? Ich könnte mit diesem Schlüssel so einiges in deiner Wohnung anstellen", neckte sie.

"Auch auf die Gefahr hin, dich jetzt zu enttäuschen, Clarice, aber dieser Schlüssel öffnet lediglich die Eingangstür. Da ich ein vielbeschäftigter Mann bin, kann es durchaus passieren, dass ich recht plötzlich einen Termin wahrnehmen muss. Ein Umstand, der dazu führen könnte, dass ich zu einer Verabredung mit dir nicht rechtzeitig erscheinen kann. In diesem Fall wäre es sehr unhöflich, dich vor meiner verschlossenen Türe warten zu lassen." Er blickte ihr streng in die Augen.

"Sieh es als ein nicht unbeträchtliches Privileg an, Clarice, dass du im übrigen aber nicht missbrauchen solltest. Ich schätze keine unangemeldeten Überraschungsbesuche. Ansonsten bist du mir aber sehr willkommen. Dieses Wochenende zum Beispiel."

"Ich dachte, da hättest du kaum Zeit für mich, wegen deiner Soiree." Sie betonte das letzte Wort übertrieben und verdrehte dabei ein wenig die Augen.

"Nun, wie es aussieht habe ich mich dafür entschieden, Zeit für dich zu haben. Das Essen mit dem Vorstand des Orchesters ist zwar Samstagabend, es wird aber nicht allzu lange dauern, das kann ich dir versprechen. Ich denke, um zehn Uhr sollten alle Gäste gegangen sein. Bis ich fertig abgeräumt und alles andere vorbereitet habe... sagen wir, elf Uhr?"

"Ich kann es kaum noch erwarten."

"Ich weiß", zwinkerte er ihr zu. "Aber Gut Ding will Weile haben, meine Liebe."

"War das jetzt die Weisheit zum Tag?"

"Du bist ein freches kleines Ding, Clarice. Dein Mundwerk wird dich noch einmal in große Schwierigkeiten bringen. Du kannst von Glück sagen, dass ich dir wohlgesonnen bin. Üblicherweise dulde ich es nicht, wenn man meinen Weisheiten nicht den gebührenden Respekt erweist."

Sein Gesichtsausdruck strafte seinen strengen Tonfall Lügen. Sie richtet sich auf und schenkte ihm ein freches Grinsen.

"Willst du mir etwa den Mund verbieten?" kokettierte sie.

"Nicht, wenn er sich jetzt noch mit einem braven Kuss von mir verabschiedet, du ungezogenes Mädchen."

Sie kam seiner Forderung ohne zu zögern uneingeschränkt nach.

*****

Die Zeit bis zum Samstag verbrachte Clarice Starling in einer Art fiebriger Ungeduld. Sie konnte von Glück sagen, dass sie im ersten Teil der Woche bereits so viel gelernt hatte, denn seit ihrem Besuch in Lecters Praxis konnte sie sich auf kaum etwas Anderes konzentrieren.

Nicht, dass sie es nicht versucht hätte, aber nach einigen vergeblichen Bemühungen in der Bibliothek, in der sie stundenlang gedankenversunken mit einem Text kämpfte, den sie normalerweise innerhalb von Minuten verinnerlicht hätte, beschloss sie aufzugeben. Gott sei Dank war Crawfords Abschlussprüfung noch komfortable drei Wochen entfernt.

Nach diesem Entschluss schwelgte sie nur noch in Gedanken, die genau genommen ziemlich untypisch für sie waren und eine frivole Komponente beinhalteten, die ihr selbst unheimlich war.

In diesen Tagen erkannte sie eine völlig neue Seite an sich, so ganz anders als ihr vertrautes, kopfbetontes und ehrgeiziges Ich. Sie sah in den Spiegel und sah darin eine weichere, weiblichere Clarice Starling als sie es jemals zuvor gewesen war.

Clarice wusste genau, dass diese Seite ihres Wesens sie verletzlich und angreifbar machte. Sie hatte diesen Teil ihres Selbst aus gutem Grunde bisher eisern in Schach gehalten. Im Weisenhaus war es nicht ratsam gewesen, allzu offenherzig seine Gefühle zu zeigen. Ein derartiges Verhalten, das wusste sie aus eigener schmerzlicher Erfahrung, konnte als Schwäche verstanden und ausgenutzt werden. Sie hatte diese Lehren über die Jahre hinweg verinnerlicht und war auch danach nie wieder von diesem Weg abgewichen.

Aber nun hatte sie zum ersten Mal seit vielen Jahren, seit den letzten Tagen ihrer Kindheit, in der ihre Familie noch nicht durch den Tod ihres Vaters erschüttert worden war, das Gefühl, sie selbst sein zu dürfen. Schwäche zeigen zu dürfen. Sie musste sich nicht einmal dazu zwingen, sie wollte Hannibal Lecter vertrauen und konnte nur darauf hoffen, dass er sie nicht enttäuschen würde.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit

H I N W E I S :
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Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
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Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

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Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen

Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen