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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
VARIANTE 1
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht zu Variante 1:

Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen

Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen

Epilog: Das Schweigen

Wenn Clarice Starling in späteren Jahren an die erste Zeit nach diesem Ereignis zurückdachte, dann versanken die meisten der darauf folgenden Ereignisse in einem diffusen Nebel, durch den sich lediglich hin und wieder Gefühlsfetzen oder eine plötzliche Erinnerung in ihr Bewusstsein stahlen. Sie war aber alles andere als unglücklich über diesen Schleier, durch den sie die Ereignisse der folgenden Tage und Wochen wahrgenommen hatte.

Eines der Geschehnisse, das ihr noch am klarsten in Erinnerung blieb, war ihr Besuch bei Will Graham im Krankenhaus gewesen. Eigentlich hätte sie dort gar nicht auftauchen müssen und zu Clarices Schande musste sie sich eingestehen, dass Mitgefühl mit Hannibal Lecters letztem Opfer nicht der wichtigste Grund für diesen Besuch gewesen war.

Noch heute konnte sie sich nur darüber wundern, wie gut sie während der unerwarteten und außergewöhnlichen Stresssituation in Hannibal Lecters Büro funktioniert hatte. Noch an Ort und Stelle, als sie auf das Eintreffen des Notarztes und der Einsatzkräfte wartete, hatte sie den roten Ordner aus Grahams Aktentasche wieder an sich genommen. Außerdem hatte sie dem schwerverletzten Will Graham das Versprechen abgenommen, nichts über ihre Rolle in dieser ganzen Affäre verlauten zu lassen. Sie wusste aber nicht genau, ob er die ganze Bedeutung dieses Versprechens in seinem dämmerigen Zustand auch wirklich verstanden hatte.

Allein bei dem Gedanken an das Interesse und die besonderen Aufmerksamkeiten der Klatschpresse, die das Bekanntwerden ihrer Beteiligung an den Geschehnisse und Enthüllungen rund um den Chesapeake-Ripper zwangsläufig mit sich gebracht hätte, wurde ihr übel. Dabei war es völlig bedeutungslos, wie klein und unbedeutend ihre Rolle in dieser ganzen Affäre wirklich gewesen war.

Wie erwartet hatte die Klatschpresse in den Wochen und Monaten nach der Identifizierung und Festnahme des Rippers die Gerüchteküche immer und immer wieder angeheizt und begierig jedes noch so kleine Detail ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Alle nur denkbaren Mutmaßungen und Theorien waren lang und breit, vor allem aber ohne Rücksicht auf die betroffenen Personen, diskutiert worden. Clarice schauderte bei der bloßen Vorstellung, ihr Bild Seite an Seite neben einem der schlimmsten und abartigsten Serienmörder in jeder Zeitung, in jeder Nachrichtensendung des Landes wiederzufinden.

Welchen Schaden ihr bis dahin langweiliger, aber immerhin untadeliger Ruf dadurch genommen hätte, wollte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Mit diesem Makel behaftet hätte sie, als private Bekanntschaft im Umfeld eines weltweit bekannten Serienmörders, niemals daran denken können, ihr ersehntes berufliches Ziel, das FBI, zu verwirklichen. Die Tatsache, dass sie die Person gewesen war, die Will Graham und Hannibal Lecter aufgefunden hatte, brachte ihr ohnehin genug unerwünschte Aufmerksamkeit von Seiten der ermittelnden Beamten ein. Zu ihrem Glück schaltete sich aber bereits nach kurzer Zeit Jack Crawford persönlich in die Vernehmungen ein, was die ganze Angelegenheit für Clarice stark verkürzte.

Sie beantwortete alle ihr gestellten Fragen wahrheitsgemäß und zu Jack Crawfords Zufriedenheit. Was er nicht wusste - und das war die einzige Sache, zu der sich Clarice Starling nicht äußerte, - war der wirkliche Grund ihres Auftauchens in Hannibal Lecters Haus an diesem Abend. Er und auch die ermittelnden Beamten gingen einfach davon aus, dass es etwas mit der missglückten Seminararbeit zu tun hatte, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr aufgefunden werden konnte. Clarice sah keinen Fehler darin, die Beamten in diesem Glauben zu belassen. Es enthob sie der Notwendigkeit lügen zu müssen.

Jack Crawford verdankte sie es auch, dass ihr Name und ihre geringfügige Beteiligung an dem Fall des Rippers lediglich einigen wenigen eingeweihten Personen weitergegeben wurde. Die Presse erhielt aufgrund der schwierigen und an Fehlern reichen Ermittlungen ohnehin nur eine geschönte Version präsentiert und in der offiziellen Akte hatte man dank seiner Anweisung jeden Hinweis auf sie unter den Tisch fallen lassen.

Clarice konnte es recht sein. Was mit den Frauen passierte, die trotz der eisernen Diskretion des Doktors das Pech hatten, in Hannibal Lecters privatem Umkreis aufgespürt zu werden, konnte sie am Beispiel der unglücklichen Rachel duBerry in den Medien verfolgen. Es war kein Wunder, dass sich aufgrund der darauf folgenden Berichterstattung weder sie, noch irgendeine von Lecters früheren Bekanntschaften jemals bereit erklärte, zu dieser Affäre auszusagen, geschweige denn, intimere Details preiszugeben.

Erst Rachel duBerrys überstürzte Hochzeit mit einem der führenden Textilbarone des Landes brachte die Klatschpresse nach Monaten endlich zum Schweigen. Die weitreichenden Beziehungen ihres frischgebackenen Ehemannes sorgten schließlich dafür, dass ihr gesellschaftliches Ansehen wiederhergestellt und die gesamte Affäre in Vergessenheit geriet.

Clarice hatte weder die einflussreichen Beziehungen, noch das Vermögen der nunmehrigen Mrs. Rosencrantz. Sie wusste genau, dass die kleine, unbedeutende Studentin aus Virginia den gesellschaftlichen Makel einer privaten Bekanntschaft mit Hannibal Lecter niemals wieder von sich würde schieben können. Und genau diese Überlegung hatte sie dazu bewogen, Will Graham in seinem Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Sie musste einfach sicherstellen, dass er sein gegebenes Wort auch hielt.

Es kostete sie einige Mühe zu ihm vorgelassen zu werden, und als sie schließlich sein Zimmer betreten durfte, war Will Graham gerade für einige Minuten eingenickt.

Clarice war für diesen Umstand sehr dankbar, denn nun hatte sie genug Zeit und Gelegenheit, durch das Gewirr an Kanülen und Schläuchen das Werk der Zerstörung, das Hannibal Lecter an dem Körper des Sonderermittlers angerichtet hatte, zu betrachten. Sie war erschüttert über das Ausmaß an Brutalität, das sich in dem Bild da vor ihr offenbarte.

Obgleich sie sich schämte, sich wie ein Voyeur zu verhalten, zwang sie sich dazu, jede kleine Einzelheit in sich aufzunehmen. Es half ihr dabei, an die dunkle Seite des Mannes zu glauben, in den sie sich beinahe verliebt hatte. Es half ihr dabei, sich zu der Erkenntnis durchzuringen, dass der bewunderte und gefeierte Dr. Hannibal Lecter wirklich und wahrhaftig der brutale, kannibalistische Mörder war, der seit Monaten das ganze Land in Angst und Schrecken versetzt und den Tod von zumindest neun Menschen auf dem Gewissen hatte.

Als Will Graham schließlich seine Augen geöffnet und ihr mit einem Lächeln sein Wiedererkennen signalisiert hatte, wusste Clarice nicht, wie sie ihr Anliegen am besten vorbringen konnte. Ihre eigenen Wünsche kamen ihr nun so bedeutungslos vor, wenn sie sich im wahrsten Sinne vor Augen hielt, wie viel dieser Mann verloren hatte. Mangels Alternativen hielt sie sich also an die nichtssagenden Plattitüden, mit denen man solche Gespräche im allgemeinen eröffnet.

"Guten Abend, Mr. Graham. Wie geht es Ihnen?"

Will hob mit, wie es Clarice erschien, großer Mühe seine linke Hand ein wenig und machte eine Bewegung, die wahrscheinlich so etwas wie eine wegwerfende Geste sein sollte.

"Wenn man endlich wieder alle Schläuche und Kanülen aus meinem Körper entfernt hat, dann geht es mir sicher wieder besser."

Will Grahams lahmer Versuch zu scherzen traf nicht ganz Clarices Nerv. Sie blickte betreten zu Boden bis sie spürte, wie sich Will Grahams Hand langsam auf die ihre legte, die sie unbewusst auf dem Rand des Bettes abgestützt hatte.

"Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mein Versprechen halten, Miss Starling."

Clarice blickte ihm unsicher in die Augen. War das eigentliche Anliegen ihres Besuches denn so offensichtlich?

"Danke, Mr. Graham. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Ihr Schweigen für mich bedeutet." Ihre Stimme war wenig mehr als ein Flüstern.

"Oh, doch, Miss Starling. Glauben Sie mir, ich kann mir Ihre Situation sehr gut vorstellen. Haben Sie die netten Fotos im Tattler gesehen, die Mr. Lounds von mir auf der Intensivstation gemacht hat?"

Clarice nickte.

"Ihr Beitrag zur Lösung des Falles hat den Stein zwar ins Rollen gebracht, Miss Starling, aber ich verstehe Ihren Wunsch sich aus dem Scheinwerferlicht der Klatschpresse heraushalten zu wollen nur allzu gut. So, wie ich das sehe, tut es auch niemandem weh, wenn Ihre Beteiligung an der Ergreifung des Chesapeake-Rippers nicht bekannt wird."

Will Graham drehte seinen Körper soweit die Schläuche es zuließen zu ihr.

"Ich werde Sie nicht fragen, wie Sie ihm auf die Schliche gekommen sind, Miss Starling. Das alles ist für mich bedeutungslos geworden. Was mich wirklich interessiert ist die Frage, ob Sie eine Ahnung davon haben, warum ER Sie am Leben gelassen hat."

Clarice hatte das bestimmte Gefühl, dass sie ihm für sein Schweigen eine Antwort auf diese Frage schuldete, auch wenn das bedeutete, sich mit Gefühlen auseinandersetzen zu müssen, die sie bisher von sich weggeschoben hatte.

"Ich weiß es nicht."

Will seufzte.

"Haben Sie sich jemals darüber Gedanken gemacht, warum er Sie in seiner Aussage und in all seinen bisherigen Vernehmungen nicht ein einziges Mal erwähnt hat?"

"Vielleicht, weil er es als Unhöflichkeit ansehen würde?"

"Haben Sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass er Sie mag?"

Clarice öffnete den Mund um ihm zu antworten, aber die Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, wollten ihren Mund nicht verlassen. Stattdessen stieß sie hervor,

"Mochte er Sie, Mr. Graham?"

Will hielt ihrem durchdringenden Blick stand.

"Ich weiß es nicht genau. Er kann sehr charmant und zuvorkommend sein, wenn er will, nicht wahr, Miss Starling?"

Clarice blickte Graham betroffen in die Augen und erkannte plötzlich, dass er genau Bescheid wusste. Dass ihm seine unglaubliche Intuition auch in diesem Fall genau die Richtung gewiesen hatte, die allen anderen verborgen geblieben war. Und trotzdem hatte er beschlossen zu schweigen. Sie hatte plötzlich das unglaubliche Bedürfnis, klare Worte zu sprechen.

"Wenn Sie über mich und Dr. Lecter Bescheid wissen, Mr. Graham, warum schweigen Sie dann? Können Sie es mit sich vereinbaren, dass eine Person wie ich, die so furchtbar geirrt hat, vielleicht einmal einer Institution wie dem FBI beitreten wird? Dass ich vielleicht einmal zu denen gehöre, die Recht und Gesetz in diesem Land vertreten?"

Wills Mund verzog sich zu einem zynischen Lächeln. Eine Gefühlsregung, die dem Betrachter doppelt ins Auge fiel, da sie so gar nicht zu dem ansonsten so freundlichen, sympathischen Gesicht des Sonderermittlers passen mochte.

"Sind wir nicht alle Opfer, Miss Starling?" antwortete er schließlich mit müder Stimme.

Clarice musste ihren Blick abwenden, denn sie konnte das Mitleid in seinen Augen nicht mehr ertragen. Sie begrüßte das Erscheinen der Schwester, die in eben diesem Moment eintrat und sie auffordert ihren Krankenbesuch zu beenden. Deshalb stand sie auf, verabschiedete sich höflich von Will Graham und wünschte ihm alles Gute für seine Genesung.

Als sie die Türe bereits in der Hand hatte, drehte sich Will Graham noch einmal zu ihr herum.

"Hat er Ihnen geschrieben?"

Verwundert antwortete Clarice,

"Nein. Warum sollte er?"

Wills Gesicht wirkte plötzlich so müde und eingefallen wie das eines sehr alten Mannes.

"Nun, ich denke ER gehört nicht zu den Menschen, die gerne in Vergessenheit geraten. Und er hat nun Zeit, sehr viel Zeit sogar. Geben Sie auf sich acht, Miss Starling."

Sie hatte nur genickt und danach ohne ein weiteres Wort das Zimmer verlassen.

So blieb sie dank Jack Crawfords Unwissen und Will Grahams gnädigem Schweigen vor den Auswirkungen der Affäre weitestgehend verschont, und da sie niemals in Verbindung mit Hannibal Lecter in der Klatschpresse auftauchte, kam auch kein Mitglied aus seinem illustrem Bekanntenkreis in Baltimore auf die Idee, die junge Frau, die den guten Doktor am Abend von Benjamin Raspails letzten Konzerts begleitet hatte, mit der unscheinbaren Studentin aus Charlottesville in Verbindung zu bringen.

Nach einer gewissen Zeit erlebte Clarice eine seltsame Distanz zu den Dingen, die in Baltimore geschehen waren. Es wäre nun an der Zeit gewesen, den Schleier über gewissen Dinge zu lüften, aber sie verspürte keine Lust, diesen speziellen Bereich ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten.

Zuweilen betrachtete sich selbst, wie sie zu dieser Zeit gewesen war, wie in einem fernen Spiegel und konnte die Arglosigkeit nicht fassen, mit der sie Hannibal Lecter damals begegnet war. Das sein gesamter Bekanntenkreis und seine Fachkollegen dieses Schicksal mit ihr teilten, war ihr kein Trost. Aber es war ein Ansporn für sie, einen solchen Fehler nicht noch einmal zu machen. Der Wunsch in der Verhaltensforschung zu arbeiten wurde für sie zu einer fixen Idee.

Darüber hinaus spielte Hannibal Lecter in ihren Gedanken keine große Rolle. Sie nahm die weitere Berichterstattung der Presse nur am Rande wahr und fühlte nichts, als sie erfuhr, dass er auf Lebenszeit hinter den Türen einer psychiatrischen Anstalt verschwinden würde. Sie würde ihn nicht wiedersehen, also beschloss sie einfach, ihn zu vergessen.

Sie bemühte sich mit allen Kräften, ihr Studium abzuschließen und eine Aufnahme an der Academy zu erhalten. Wie vorausgesehen, geriet sie allerdings in den Einstellungsstopp und verbrachte die nächsten beiden Jahre im Labor, ehe sie endlich ihren ersehnten Platz an der Academy zugewiesen bekam.

Ihre Wunden begannen zu heilen.

ENDE

© 2003 by Lilith

Ein Sequel zu "Der Tod in Baltimore" (Variante 1) ist in Vorbereitung.

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
Keine Verletzung von Urheberrechten ist beabsichtigt.

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