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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
VARIANTE 1
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 1:

Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen

Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen

Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit

Im nachhinein konnte sie nicht mehr genau sagen, wann und warum ihr an jenem verhängnisvollen Samstag, dem 24. März, der Gedanke gekommen war, dass sie noch ein Telefongespräch mit Will Graham wegen der Rückgabe ihrer Seminararbeit führen musste.

Es war relativ einfach seine Telefonnummer über die örtliche PD herauszubekommen, immerhin waren die Rufnummern der wichtigsten, an der Ermittlung zum Fall Chesapeake-Ripper beteiligten Beamten in der gesamten Region und in praktisch jedem Polizeidepartment griffbereit.

Als sie die Nummer gewählt hatte, meldete sich am anderen Ende eine müde Stimme.

"Hier Will Graham, guten Tag."

Clarice musste plötzlich um ihre Worte ringen, so sehr schnürte ihr die Peinlichkeit der ganzen Sache die Kehle zu, was zu einem kurzen Schweigen ihrerseits führte.

"Hallo? Mit wem spreche ich? Kann ich irgend etwas für Sie tun?"

Seine Stimme klang ungeduldig, aber sie war nicht unfreundlich. Diese Tatsache veranlasste Clarice, die Sache nicht einfach auf sich beruhen zu lassen, sondern mit heiserer Stimme zu sprechen.

"Ahm, Mr. Graham. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Wir sind uns nur einmal begegnet. Sehr kurz, in Dr. Lecters Praxis. Ich habe Ihnen einen roten Ordner gegeben, Sie erinnern sich vielleicht an mich. Mein Name ist übrigens Clarice Starling."

Das kurze Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet ihr, dass ihr Gesprächspartner nachdachte.

"Doch... ja, ich erinnere mich. Sie waren etwas nervös an diesem Abend, nicht wahr? Clarice Starling also... nun, was kann ich für Sie tun, Miss Starling?"

"Ich weiß, das klingt jetzt ein wenig ungewöhnlich, aber bitte sagen Sie mir doch, Mr. Graham, haben Sie den Inhalt des Ordners eigentlich gelesen? Es ist wirklich wichtig für mich, das zu wissen."

"Es tut mir wirklich leid, Miss Starling, aber ich muss ihn in dem ganzen Trubel hier einfach vergessen haben. Ich verspreche Ihnen, mich noch heute Abend darum zu kümmern..."

"Nein, nein...", unterbrach sie ihn heftig, ehe sie zu einem etwas moderaterem Tonfall zurückfand. "Mr. Graham, ich will ehrlich sein. Obwohl ich es nicht gerne zugebe, aber der Inhalt dieses Ordners ist bestenfalls ein Witz und ein schlechter dazu. Ich wäre Ihnen wirklich unendlich dankbar, wenn Sie ihn mir so bald wie möglich wiedergeben könnten. Würden Sie das tun?"

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang sichtlich verwirrt, aber Will Graham antwortete ohne zu zögern,

"Selbstverständlich, Miss Starling. Ich werde ihn Ihnen, sobald es meine Zeit erlaubt, an Ihre Postadresse senden, wenn Sie damit einverstanden sind."

Clarice war erleichtert. Ohne zu zögern nannte sie Will Graham ihre Adresse und verabschiedete sich dann überschwänglich von ihm. Was für ein freundlicher und zuvorkommender Mann. Sie beschloss, dass sie Will Graham mochte.

*****

Nachdem er den Telefonhörer aufgelegt hatte, nahm Will Graham seine selten benutzte Aktentasche zur Hand und entnahm ihr besagten Ordner. Nachdenklich blickte er auf den roten Einband. Eigentlich war er mit wichtigeren Sachen beschäftigt, als mit dieser trivialen Angelegenheit, aber er fühlte sich der jungen Frau und ihrer Bitte fast ein wenig verpflichtet, nachdem er das Geschehen in Dr. Lecters Vorzimmer so vollkommen vergessen hatte.

Deshalb würde er persönlich dafür sorgen, dass dieser Ordner noch mit der heutigen Post hinausging. Wenn er den Ordner einfach nur weitergab, stand nämlich zu befürchten, dass er in dem allgemeinen Chaos, das im Moment herrschte, wieder auf die Seite geschoben und vergessen wurde. Um Miss Starlings Bitte zu entsprechen, würde er persönlich dafür Sorge tragen, dass diese Papiere noch mit der heutigen Post hinausgingen.

Nachdem er telefonisch einen passenden Versandkarton bestellt hatte, um den Ordner darin unterzubringen, setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und betrachtete die rote Mappe, die vor ihm lag. Es würde einige Minuten dauern, ehe man ihm den geliefert hatte. Froh über einige wenige Minuten der Ablenkung, nahm er eine Tasse Kaffee zur Hand und nahm einen Schluck des bereits lauwarm gewordenen, schalen Getränks.

Was für eine seltsame Geschichte, amüsierte er sich bei sich selber. Aus einem plötzlichen Impuls heraus öffnete er den Deckel und verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee, als er den Titel der schriftlichen Arbeit las, die er da in seinen Händen hielt.

Ohne weiter darüber nachzudenken, begann er sich wie in Trance in den Text zu vertiefen. Als wenige Minuten später der angeforderte Karton bei ihm abgegeben wurde, nahm er die Anwesenheit einer anderen Person in seinem provisorischen Büro noch nicht einmal wahr.

Der Officer, der erst kürzlich in der Kaffeeküche an einer Klatschrunde teilgenommen hatte, bei der Jack Crawfords sonderbarer Protege eines der Hauptthemen gewesen war, dachte sich seinen Teil, stellte den Karton schließlich neben Will Graham auf den Schreibtisch und verließ kopfschüttelnd das Zimmer.

*****

Clarice Starling parkte ihren Wagen einige Häuserblöcke von Lecters Haus entfernt. Alles aus Gründen der Diskretion, dachte sie amüsiert bei sich selber und auch daran, dass nach dieser Nacht das Thema Verschwiegenheit endlich eine reale Grundlage haben würde.

Mit beschwingten Schritten näherte sie sich seinem Haus und ein beinahe enthusiastisches Gefühl erfasste sie, als sie den Treppenaufgang zu seiner Eingangstür hochging. Sie stutzte allerdings, als sie den Schlüssel ins Schloss zu stecken versuchte. Selbst in einer so gesicherten, vornehmen Wohngegend wie dieser, war es sehr ungewöhnlich, dass die Türe nicht verschlossen war.

Eine derartige unbedachte Sorglosigkeit passte so überhaupt nicht zu einem so sorgfältigen, planvollen Charakter wie dem von Dr. Lecter. In Clarices Magen breitete sich ein unangenehmes Gefühl aus.

Vorsichtig betrat sie eine diffus beleuchtete Eingangshalle und ein Haus, in dem eine eigenartige Stille herrschte. Sie musste den Drang unterdrücken, nach Hannibal Lecter zu rufen, schreckte aber aus einem Gefühl der Peinlichkeit davor zurück. Das letzte, was sie wollte, war als leicht hysterische Gans dazustehen, die wegen der kleinsten Kleinigkeit in Panik verfiel. Nein, da war es schon besser zunächst einmal selber nach dem Hausherrn zu suchen.

Trotzdem setzte sie unbewusst so leise wie möglich einen Fuß vor den anderen und blickte suchend in jeden dunklen Winkel, an dem sie vorbeikam. Ihre Schritte, so vorsichtig sie sie auch auf dem teuren Marmorboden aufsetzte, hallten trotzdem entsetzlich laut in ihren Ohren. Als sie am Esszimmer vorbeiging, sah sie, dass das Festmahl zwar bereits beendet, der Tisch aber bei weitem noch nicht fertig abgeräumt war.

Sie fragte sich gerade, ob sie nicht vielleicht doch nach Dr. Lecter rufen sollte, als sie ein leises Stöhnen aus der Richtung hörte, in der - wie sie wusste - sein ebenerdig gelegenes Büro lag. Ein beklemmendes Gefühl erfasste sie in der Magengegend und ihre Beine waren eigenartig schwach, als sie in die Richtung der schwachen Laute rannte.

Die Szene, die sie im Büro erwartete, war so grauenhaft, dass sie ihre Bedeutung nicht sofort erfasste. Zwei Männer lagen in ihrem Blut vor ihr. Der eine, Will Graham, lag auf dem Boden und war die Quelle des schmerzvollen Stöhnens. Der andere, Hannibal Lecter, lag rücklings über seinem Schreibtisch. Er blutete aus mehreren Wunden, die über seinen gesamten Oberkörper verteilt waren. Aus einem Impuls heraus stürmte sie zu ihm, aber so wie es aussah, schien er das Bewusstsein verloren zu haben.

Clarice beugte sich über ihn und wollte ihm gerade erste Hilfe leisten, als sie hinter sich erneut das schwache Stöhnen des Sonderermittlers vernahm. Sie drehte sich zu ihm um und sah, dass eine Waffe in seiner schlaffen Hand lag. Er hatte seinen Kopf mit Mühe einige wenige Zentimeter vom Boden erhoben und blickte ihr wie ein weidwundes Tier in die Augen. Aus seinem Mundwinkel rann Blut und warf bei jedem Atemzug Bläschen.

Er wollte ihr ganz offensichtlich etwas sagen, schien aber nicht genug Kraft zu haben, um seine Worte deutlich zu formulieren. Clarice beschloss, dass ihr dieser Mann in seinem Zustand, trotz seiner Waffe, kaum gefährlich werden konnte und wollte gerade auf ihn zugehen, als sie hinter sich eine Bewegung verspürte. Gleichzeitig bemerkte sie, wie sich Will Grahams Augen vor Entsetzen weiteten. Aus einem Instinkt heraus, drehte sie sich um und trat gleichzeitig einen Schritt zurück.

Das bewahrte sie vor einer ernsthaften Verletzung, denn das Stilett, das Hannibal Lecter in seiner Hand hielt, verfehlte sie nur um wenige Millimeter. Clarice blickte ihm starr vor Entsetzen in die Augen und registrierte das langsame Erkennen, das sich darin abzeichnete. Gleich darauf brach der Blick aber wieder und Hannibal Lecter sank zurück in gnädige Bewusstlosigkeit. Das kleine Stilett fiel aus seiner erschlaffenden Hand auf den blutbespritzten Perserteppich.

Clarice Starlings Körper fühlte sich wie betäubt, als sie - den Blick keinen Augenblick lang von Dr. Lecter nehmend - rückwärts zu Will Graham hinüber ging und sich langsam neben ihm hinhockte. Als sie es endlich schaffte, ihren Blick von Hannibal Lecters regloser Gestalt abzuwenden, sah sie die lange Schnittwunde im linken Bauchbereich Will Grahams und erkannte in der blutigen Masse, die sich daraus hervorwölbte, einen Teil der Eingeweide, die bereits durch die Wunde ausgetreten waren.

Einen plötzlichen Würgereiz unterdrückend, senkte sie ihren Kopf nahe zu Will Grahams Mund. Es dauerte einige Zeit, bis er ihr einige verständliche Sätze ins Ohr flüstern konnte, aber diese wenigen Worte genügten, um Clarice Starlings Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern.

Danach wagte sie sich nicht mehr in die Nähe des bewusstlosen Hannibal Lecter. Sie wagte es aber auch nicht, ihn auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen, als sie die notwendigen Notrufnummern wählte.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Epilog: Das Schweigen

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
Keine Verletzung von Urheberrechten ist beabsichtigt.

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Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 1:

Kapitel 8: Erinnerungen und
Erwartungen

Kapitel 9: Eine ereignisreiche Woche
Kapitel 10: Der Preis der Wahrheit
Epilog: Das Schweigen