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Der Tod in Baltimore

Der Tod in Baltimore
VARIANTE 2
von Lilith

Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 2:

Kapitel 8: Ein unmoralisches Angebot
Kapitel 9: Die Schlange im Paradies
Kapitel 10: Sonnenuntergang
Epilog

Kapitel 10: Sonnenuntergang

Hannibal Lecter fand wie so oft auch in dieser Nacht keinen Schlaf. Mit nahezu hypnotischem Blick fixierte er die sich langsam bewegenden Lichter, welche die stark gedämpfte Straßenbeleuchtung an seine Schlafzimmerdecke warf. Seine äußerlich entspannter Körper gab nichts von den lebhaften Gedankengängen preis, die sich gerade in seinem Geist abspielten. Das Abwägen bestimmter Alternativen, als er versuchte, für sich eine Entscheidung zu treffen.

Konnte er es denn überhaupt zulassen, dass ein anderes Wesen so tiefen Einblick in ihn bekam?

Sogar er musste zugeben, dass Clarice Starling eine außergewöhnliche Wirkung auf ihn hatte. Und das betraf nicht nur die körperlichen Aspekte ihrer Beziehung. Mit leichtem Erstaunen musste er sich die Möglichkeit eingestehen, dass ihm Clarice Starling so etwas wie Angst einjagte, denn sie berührte ihn an Orten, zu denen kein sterbliches Wesen Zugang haben sollte.

Nicht einmal ein so außerordentliches Geschöpf wie sie es war. Allein den Gedanken daran empfand er als unerträglich.

Hannibal Lecter wandte seinen Blick von den Lichtern an der Decke und drehte den Kopf zu seiner Armbeuge, wo Clarice Starlings Gesicht verborgen lag. Den Rest ihres Körpers hatte sie beinahe besitzergreifend um den seinen drapiert.

Kein Mann von Eile, hatte er nach Will Grahams Ableben einfach die Bürotüre hinter sich geschlossen und die Dinge auf sich zukommen lassen.

Als er und Clarice wenig später, nach einer Woche erzwungener Enthaltsamkeit, wieder aufeinander trafen, schafften sie es nicht einmal bis ins Schlafzimmer. Auf dem halbem Weg die Treppe hinauf, sich bei jeder Stufe leidenschaftlich küssend und sich gegenseitig ihrer Kleider entledigend, gaben schließlich beide dem mächtigen Drang nach einer körperlichen Vereinigung nach. Hannibal Lecter nahm sich seine kleine Starling so wie sie gerade war: von hinten und über sein reichverziertes Geländer gebeugt.

Der Höhepunkt, den er ihr damit verschaffte, kam schnell und er war so heftig, dass er es für weit sinnvoller hielt, sie auf seine Arme zu nehmen und in sein Schlafzimmer zu tragen, als darauf zu warten, dass sie irgendwann die Kraft dazu finden würde, von selber dorthin zu kommen.

Dort wiederholten sie ihr Liebesspiel, diesmal sehr viel ausdauernder und leidenschaftlicher, als die fieberhafte, kraftvolle Vereinigung zuvor, die allerdings trotz ihrer Heftigkeit nur die allernotwendigsten körperlichen Bedürfnisse befriedigen hatte können.

Und doch.

Es war besser kein Risiko einzugehen.

Außerdem musste er sie ja nicht ganz aufgeben. Zu seinem Wochenend-Häuschen am Susquehanna-River gehörte viel Land, auf dem sie zur Ruhe gebettet werden konnte. Er würde zu ihr gehen können, wann immer er wollte. Und für all die anderen Dinge sie betreffend, hatte er ja immer noch seinen Gedächtnispalast.

Hannibal Lecter empfand nicht oft so etwas wie Bedauern, aber als er sich nun aus den Armen seiner Geliebten wandt und sich anschickte aufzustehen, empfand er unbekannterweise etwas, das sogar über dieses Gefühl hinausging.

*****

In der Küche angekommen, ging er geradewegs zu einer der Schubladen und entnahm ihr ein messerscharfes Stilett. Er wählte diese zarte, scharfe Klinge, weil sie, richtig angewendet, bei dem Opfer praktisch keine Schmerzen verursachte. Clarice würde wenig mehr als einen heftigen Stoss verspüren. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie überhaupt etwas spüren würde.

Er würde all seine Kunstfertigkeit darauf verwenden, ihr einen schmerzlosen Übergang zu ermöglichen.

Ein sanfter Übergang. Ja, das war ihr angemessen.

Als er sich umdrehte, um den Raum wieder zu verlassen und zurück nach oben zu gehen, stand Clarice im Eingang zur Küche. In seine eigenen Gedanken versunken, hatte er sie nicht kommen gehört. Sie trug seinen Morgenmantel und lächelte ihn verschlafen an. Mit einer Hand verzwirbelte sie eine Locke ihres zerzausten Haares.

Er konnte nicht anders. Er fand sie hinreißend.

"Was machst du denn so spät noch in der Küche?"

"Ich habe Hunger."

"Hmm. Was hast du denn so im Kühlschrank?"

"Viele Dinge. Was möchtest du denn haben?"

"Hast du eine Orange für mich?"

"Ja."

Er beobachtete wie sie zur Kühlschranktüre ging und sie öffnete. Lautlos und unbemerkt glitt er hinter sie. Als sie sich nach unten beugte, um ins Obst- und Gemüsefach zu greifen, hob er langsam die Hand mit dem Stilett.

Plötzlich richtete sie sich wieder auf und drehte sich um. Sie hielt eine perfekt geformte, reife und saftige Orange in ihrer kleinen Hand. Als sie ihn so unvermittelt hinter sich bemerkte, erschrak sie fürchterlich und ließ die reife Frucht zu Boden fallen.

"Himmel, Hannibal! Wie kannst du mich nur so erschrecken", schimpfte sie vorwurfsvoll.

Sie bückte sich, hob die Orange wieder auf und betrachtete sie von allen Seiten. Dann nahm sie ihm einfach das Stilett aus der Hand, trat an die Spüle und begann die Orange zu schälen.

"Das ist aber ein komisches Messer. Hast du keine richtigen in diesem riesigen Haus?"

"Doch, die habe ich schon, aber mit denen würdest du dich nur verletzen."

Er war hinter sie getreten und legte seine Arme um ihre Schultern. Sie lehnte sich zurück und genoss die Wärme seiner Umarmung. Clarice konnte die feste Muskulatur seines Brustkorbes spüren und war plötzlich überhaupt nicht mehr an der Orange interessiert.

Er konnte ihre warme Haut und den reizvollen Ansatz ihrer Brüste spüren und war überhaupt nicht mehr an dem Stilett interessiert.

Die Würfel waren gefallen. Er würde den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Das Leben war interessanter mit ihr darin und wer wusste schon, was die Zukunft bereithielt.

*****

"Dann war es das also."

Hätte er sie mit voller Wucht in das Gesicht geschlagen, wäre der Schmerz doch nur ein müder Abklatsch dessen gewesen, was sie empfand, als er sie am nächsten Morgen vor vollendete Tatsachen stellte.

"Ja."

Hannibal Lecter lächelte innerlich, als er daran dachte, wie anders dieser Morgen für Clarice Starling hätte verlaufen können, wenn er sich in dieser Nacht anders entschieden hätte. Er war sehr großzügig gewesen, aber sie würde besser daran tun, seine Geduld nicht mit einer typisch weiblichen Szene auf die Probe zu stellen. Selbst wenn ihm die Dunkelheit, die in den vielen verborgenen Ecken und Gängen seines Gedankenpalastes lauerte, zuflüsterte, dass er diese junge Frau ebenfalls vermissen würde, die oberflächlichen Schichten seines Bewusstseins hatten bereits das Erforderliche getan und die beginnende emotionale Verbindung zu ihr abgeschnitten.

Aber so wie schon etliche Male vorher, enttäuschte Clarice Starling ihn auch dieses Mal in keinster Weise. Er beobachtete neugierig und durchaus mit einem gewissen Respekt, wie sie tapfer die Tränen zurückdrängte und den Rücken durchdrückte, ehe sie den Kopf leicht senkte und zustimmend nickte.

Die dramatischen und überflüssigen Szenen anderer abgelegter Geliebter vor seinem geistigen Auge – eine Variante, die zweifellos auch Rachel geliefert hätte, wäre die Situation nicht gar so öffentlich gewesen – erkannte er, dass tatsächlich nichts gewöhnlich an Clarice Starling war, absolut gar nichts. Alles, was sie hat, ist die Angst davor, sinnierte er bei sich selber.

Normalerweise hätte Hannibal Lecter in so einer Situation schnell reinen Tisch gemacht, aber bei Clarice hatte er das seltsame und einzigartige Gefühl, ihr etwas zu schulden. Er würde über diese seltsame Gefühlsanwandlung bei Gelegenheit noch reflektieren müssen. Jetzt aber, unter dem Eindruck dieser ungewohnten Emotion, rang er sich zu etwas für ihn absolut Ungewöhnlichem durch: er machte den Versuch sie zu trösten.

Er ging auf sie zu, umarmte sie und beschloss, das unterdrückte Schluchzen zu ignorieren, das er als Folge der unvermittelten körperlichen Nähe provozierte. Dann streichelte er Clarice sanft über das Haar und entfernte rigoros jede Schärfe aus seiner Stimme, als er sagte:

"Clarice, du musst deinen Weg gehen und ich den meinen. Beide Wege verlaufen nicht zwangsläufig miteinander. Glaub mir, ich hätte noch gerne weiter deine Begleitung und Gegenwart genossen, aber die Dinge haben sich nun einmal anders entwickelt. Komm, sei ein braves Mädchen..."

Er ließ sie los und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Mit seinen Daumen wischte er die Tränen ab, die an ihrer Wange herabrollten. Er lächelte sie an und zu seinem eigenen Erstaunen bemerkte er, dass er es dieses eine Mal auch so meinte.

"Ich habe die Zeit mit dir sehr genossen. Sie war leider viel zu kurz, aber..."

"Nein, sag nichts mehr."

Clarice löste sich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. Sie strich sich mit dem Handrücken über die Nase, schniefte und blickte sich suchend um, ehe sie seine Hand bemerkte, die ihr ein Taschentuch offerierte. Sie nahm es mit einem dankbaren Nicken und machte ausgiebigen Gebrauch davon. Als sie ihre Fassung wieder einigermaßen zurückgewonnen hatte, sagte er:

"Du kommst damit zurecht?"

Es war keine wirkliche Frage. Sie wusste, was dieser Mann von ihr erwartete, aber letztendlich war es ihr eigener Stolz dem zu liebe sie beschloss, dieses Melodram perfekt zu Ende zu spielen.

"Sicher."

"Das ist mein Mädchen."

Noch einmal schloss er die Distanz zwischen ihnen und küsste sie sanft auf die Stirn. Als er wieder zurücktrat, hinterließ seine Abwesenheit ein kaltes Gefühl auf Clarice Starlings Haut.

© 2003 by Lilith

Zum nächsten Kapitel:
Epilog

H I N W E I S :
Diese Fanfiction dient zur Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielles Interesse.
Verantwortung und Copyright verbleiben bei den jeweiligen Autoren.

Die Figuren aus den Romanen Red Dragon, The Silence of the Lambs und Hannibal gehören Thomas Harris.
Keine Verletzung von Urheberrechten ist beabsichtigt.

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Kapitelübersicht:

Kapitel 1: Präliminarien
Kapitel 2: Die Seele des Mörders
Kapitel 3: Interferenzen
Kapitel 4: Immer die Beste
Kapitel 5: Der Luftzug der Macht
Kapitel 6: Im Spiegel
Kapitel 7: Vergügungen

Kapitelübersicht Variante 2:

Kapitel 8: Ein unmoralisches Angebot
Kapitel 9: Die Schlange im Paradies
Kapitel 10: Sonnenuntergang
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